Die Bettgeschichten der Meisterköche: Roman (German Edition)

das Studium der medizinischen Wissenschaft betreibt und sich zum Mediziner berufen fühlt, gehört es zu den aufregendsten Erfahrungen, einem völlig neuen Krankheitsbild zu begegnen. Doch es kann zugleich eine der schrecklichsten sein. Im Fall von Brian, einem jungen Mann aus Edinburgh, haben wir es mit einem solchen außerordentlichen Phänomen zu tun.
    Lassen Sie mich kurz zusammenfassen: Brian ist ein junger Mann, der an einer ungeklärten degenerativen Krankheit leidet, die viele seiner lebenswichtigen Organe befallen hat, insbesondere jedoch die Leber. Wir alle wissen um die zentrale Bedeutung dieses Organs. Eine gesunde Leber reinigt unseren Körper von beinahe hundert Prozent aller Toxine und Bakterien. Eine überforderte und geschädigte Leber gilt als zugrunde liegende Ursache vieler Krankheiten; es gilt mittlerweile als wahrscheinlich, dass ein Großteil aller Krebserkrankungen auf gestörte Leberfunktion zurückzuführen ist. Und angesichts der toxischen Chemikalien, die wir über Lebensmittel, Getränke und sogar die Luft, die wir atmen, aufnehmen; durch Alkohol, Nikotin und Medikamenten-missbrauch – hat die Entgiftungsfunktion der Leber heute mehr zu leisten als je zuvor.
    Wir wissen, dass die Leber das einzige Organ des Körpers ist, das sich nach einer Schädigung vollständig regenerieren kann. Das wissen wir bereits seit der Antike. Prometheus, eine Gestalt aus der griechischen Mythologie, wurde zur Bestrafung an einen Felsen geschmiedet, wo ihm während des Tages ein Adler die Leber wegpickte. Über Nacht wuchs sie nach, nur um am nächsten Tag wieder einer Teilresektion durch den Adler unterzogen zu werden. Ein frühes Zeugnis unseres intuitiven Wissens um die Selbstheilungskräfte der Leber. Soweit wir wissen, dauerte es bis Ende des neunzehnten Jahrhunderts, ehe Canalis die erste Leberresektion nach wissenschaftlichen Prinzipien durchführte. Noch mehr als ein Jahrhundert später ist uns der genaue Mechanismus, durch den der Regenerationsprozess in Gang gesetzt wird, unklar.
    Im Fall von Brian ist das von untergeordnetem, rein akademischem Interesse. Bei ihm haben wir es mit einer stark vernarbten Leber zu tun – fortgeschrittene Zirrhose. Die Leber ist irreparabel geschädigt, und eine Lebertransplantation ist das letzte Mittel, um sein Leben zu retten.
    Eine derart weitreichende Schädigung der Leber ist mir bislang nur in Fällen von extremem, langfristigem Alkoholabusus untergekommen. Und hier handelt es sich um einen jungen Mann, der Nichttrinker ist und Alkohol höchstens in verschwindend geringen Mengen zu sich genommen hat. Ich muss dazu sagen, dass ich angesichts der Unwahrscheinlichkeit eines solchen Krankheitsverlaufs bei einem gesund lebenden Menschen zunächst nicht weniger zynisch reagierte als zahlreiche meiner Kollegen und zunächst einmal davon ausging, der junge Mann gebe sich extremem Selbstbetrug hin. Sie alle wissen, dass dies bei Alkoholabhängigen häufig vorkommt.
    Nachdem ich sein Verhalten unter kontrollierten Bedingungen überwacht habe, sehe ich mich jedoch in der Lage, seine absolute Alkoholabstinenz zu bestätigen, während ich zugleich Zeuge der bedauerlichen und unerklärlichen Verschlechterung seines körperlichen Zustands über diesen Zeitraum werden musste. Die ungeheure emotionale Belastung, die diese Krankheit für Brian und seine Familie bedeutet, kann ich ebenfalls bezeugen. Alkoholmissbrauch haben wir als Ursache für Brians Verfall also definitiv ausgeschlossen.
    Virusinfektionen sind eine weitere häufige Ursache für Leberschädigungen in den westlichen Gesellschaften. Virale Hepatitis führt, wie Sie als angehende Mediziner wissen, zu einer Zersetzung des Lebergewebes. Allerdings ergab sich dafür bei Brian keinerlei Befund. Das können wir also ebenfalls ausschließen.
    Dann gibt es die Kategorie sogenannter Autoimmunerkrankungen der Leber, bei der, einfach ausgedrückt, die weißen Blutkörperchen nicht beziehungsweise nicht nur Bakterien und Viren angreifen, sondern aus irgendeinem Grund auch körpereigene Zellen. Wir haben bereits zahlreiche Tests in dieser Richtung unternommen und gehen dem weiter nach.
    Wie in jeder anderen Disziplin gibt es auch in der Medizin, wenn wir nicht weiterwissen, eine Art Allzweckkategorie – nämlich das, was wir so schön wie ungenau als kryptogene Zirrhose bezeichnen. Traurigerweise ist diese Gruppe von Erkrankungen nur an ihren Auswirkungen zu erkennen – dem Untergang des Lebergewebes –, und es gibt nicht