Die Beute
hatte wirklich Angst da draußen.«
»Ich auch«, sagte Jodie.
»Was ist am Ende passiert, Jode?«, fragte Hannah.
Jodie sah wieder Kanes Gesicht am anderen Ende des Gewehrlaufs vor sich, wandte den Blick von ihren Freundinnen zum Fenster und sah in den herrlichen, sonnigen Wintertag hinaus. »Das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
»Das Krankenhaus hat einen Psychologen organisiert, der mit uns reden soll«, sagte Hannah.
Jodie schüttelte den Kopf. Sie wollte ihnen nichts erzählen. Sie hatten schon genug mit ihren eigenen Schrecken zu kämpfen. Sie wollte nicht auch noch ihre Albträume von Messern und Waffen beitragen. Oder was sie getan hatte, damit sie wieder zu ihren Familien zurückkonnten. Das war allein ihre Bürde. Und ihre Rettung. Und sie war sich nicht sicher, ob sie ihnen das erklären konnte.
»Ich verzichte auf die Therapie.«
Hannah nickte. Sie wollte etwas sagen, hielt aber den Mund.
»Irgendwann werde ich das sicher in Anspruch nehmen, aber nicht heute. Bevor ich zu meinen tollen Kindern zurückkehre, habe ich noch was zu erledigen.« Vorsichtig rutschte Jodie vom Bett herunter und zuckte zusammen, als der Schmerz ihren Körper durchfuhr.
Hannah streckte ihre Hand aus, als sie vorbeiging. »Warte. Ich möchte dir gerne etwas sagen.« Sie holte zitternd Luft. »Es tut mir leid, Jodie. Dass ich dir nicht geglaubt habe. Dass ich …«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Jodie.
»Nein, es ist nicht in Ordnung. Ich musste das sagen. Was ich getan habe …« Sie hielt inne und nahm dann einen neuen Anlauf. »Als wir dich auf der anderen Seite der Schranktür gehört haben, konnte ich gar nicht glauben, dass du zurückgekommen warst. Dann hat Travis dich zusammengeschlagen, direkt vor der Schranktür.« Sie wischte sich eine Träne von der Wange. »Ich dachte, ich wüsste es besser, und das hat uns fast das Leben gekostet. Ich verdiene es nicht …«
»Nein, hör auf«, Jodie ging zu den beiden hin, legte um jede einen Arm und zog sie an sich. »Wir sind Freundinnen. Wir sind alle hier, glaubt mir, nur das zählt.«
Sie duschte sich, zog sich die Sachen an, die Hannahs Mann Pete vorbeigebracht hatte, stellte sich vor den Badezimmerspiegel und sah prüfend in ihr Gesicht. Eine große, rot gesprenkelte Wunde zog sich über die Stirn, über das rechte Auge zur Wange herunter. Ihre Lippen waren geschwollen und aufgeplatzt. Ihre Haare der reinste Albtraum. Sie atmete tief ein und wieder aus und dachte an Matt.
All die romantischen Anflüge der letzten Nacht hatte sie sich nur eingebildet. Dann hatte sie einem Mann eine Waffe an den Kopf gehalten und ihm fast das Gehirn weggeblasen. Sie wusste, dass dieser unschöne und verstörende Moment ihre Chance auf eine Beziehung mit Matt zunichtegemacht hatte, dennoch wollte sie es ihm erklären. Sie musste es ihm erklären. Seine Meinung bedeutete ihr viel.
Sie klopfte an die Tür seines Zimmers und steckte zögernd den Kopf hinein. Er saß in frischen Klamotten auf dem Bett. Sein Gesicht war schlimmer zugerichtet als ihres. Er hatte ein blaues Auge, Schürfwunden auf beiden Wangen, seine Unterlippe war geschwollen. Sein Arm hing in einer Schlinge, und sein Knie steckte in einer Metallschiene. Sie fühlte sich schuldig und dankbar zugleich.
»Darf ich reinkommen?«
»Klar.« Er stellte den kleinen Fernseher ab, der von der Decke hing, hielt die Fernbedienung in der Hand und sah sie an, als sie durch das Zimmer ging. Er schien weder froh noch unglücklich zu sein, sie zu sehen.
Jodie setzte sich auf einen Stuhl, der neben dem Bett stand. »Du siehst gut aus.«
Er hob eine Augenbraue. »Du auch.«
Sie fuhr sich durch das Haar und mit dem Finger über ihre schmerzende Wange. »Klar, der neue Look steht mir.« Sie lachte.
Ein zaghaftes Lächeln umspielte Matts Lippen. Doch dann kam er gleich zur Sache. »Hast du heute Morgen mit der Polizei gesprochen?«
Sie nickte. »Sie haben mir aber nicht viel gesagt. Ich habe gesagt, dass ich heute Nachmittag mit ihnen zur Scheune fahre und schildere, wie alles passiert ist.«
»Du weißt, dass du das nicht musst.«
»Ich will es aber«, sagte Jodie. »Ich will den Ort bei Tageslicht sehen, damit ich die nächtlichen Bilder löschen kann, die immer wieder in mir aufsteigen, sobald ich die Augen schließe.«
Er sah sie einen Augenblick an und trommelte mit dem Finger auf die Fernbedienung. »Bevor du gehst, solltest du etwas wissen. Falls du deine Meinung doch noch ändern willst. Die ersten Untersuchungen haben
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