Die Beute - 2
Zufällig sei sie zu Hause, sie habe gerade eilig zum Friedensrichter gehen wollen, wohin sie eine Kundin bestellt habe. Aber sie werde diese im Stich lassen, werde die Angelegenheit verschieben; sie sei überglücklich, daß ihre Schwägerin die Liebenswürdigkeit habe, ihr endlich einen kleinen Besuch abzustatten. Renée lächelte verlegen. Frau Sidonie wollte durchaus nicht zugeben, daß sie unten blieb; sie führte sie über die kleine Treppe in ihr Zimmer hinauf, nachdem sie zuvor den Messingknopf von der Ladentür abgezogen hatte. So nahm sie den Knopf, der nur mit einem einfachen Nagel befestigt war, täglich zwanzigmal ab und brachte ihn ebensooft wieder an.
»So, meine Schöne«, sagte sie und ließ Renée auf einer Chaiselongue Platz nehmen, »hier können wir gemütlich plaudern … Denken Sie nur, Sie kommen wie gerufen. Gerade heute abend wollte ich zu Ihnen.«
Renée, die das Zimmer kannte, empfand das gleiche leise Unbehagen wie ein Spaziergänger, der ein Stück Wald in einer geliebten Gegend abgeholzt findet.
»Ach«, sagte sie endlich, »Sie haben das Bett umgestellt, nicht wahr?«
»Ja«, antwortete die Spitzenhändlerin ruhig, »eine meiner Kundinnen fand, es passe viel besser auf den Platz dem Kamin gegenüber. Sie hat mir auch zu den roten Vorhängen geraten.«
»Das habe ich mir gedacht, die Vorhänge hatten früher eine andere Farbe … Übrigens eine recht gewöhnliche Farbe, dieses Rot!«
Sie nahm ihr Lorgnon und betrachtete das Zimmer, dessen Luxus dem eines großen Stundenhotels entsprach. Auf dem Kaminsims entdeckte sie lange Haarnadeln, die sicherlich nicht aus Frau Sidonies dürftigem Chignon121 stammten. An der Stelle, wo früher das Bett gestanden hatte, war die Tapete ganz zerschrammt, verfärbt und beschmutzt von den Matratzen. Wohl hatte die Kupplerin diese beschädigte Stelle hinter den Rücklehnen zweier Sessel zu verbergen versucht, aber die Lehnen waren etwas zu niedrig, und Renées Blick blieb an dem abgenutzten Tapetenstreifen haften.
»Haben Sie mir etwas zu sagen?« fragte sie schließlich.
»Ach ja, eine ganze Geschichte«, sagte Frau Sidonie und faltete dabei die Hände mit dem Ausdruck einer Feinschmeckerin, die im Begriff ist zu erzählen, was sie zu Mittag gegessen hat. »Denken Sie nur, Herr de Saffré ist in die schöne Frau Saccard verliebt … Ja, in Sie, mein Herzchen!«
Renée verspürte nicht einmal eine Regung von Eitelkeit.
»Nanu«, sagte sie, »Sie haben mir doch immer erzählt, er sei so angetan von Frau Michelin.«
»Oh, das ist vorbei, gänzlich vorbei! Ich kann Ihnen den Beweis dafür liefern, wenn Sie wollen … Sie wissen wohl noch nicht, daß die kleine Michelin dem Baron Gouraud gefallen hat? Das ist ganz unbegreiflich. Alle, die den Baron kennen, sind sprachlos … Und wissen Sie, daß sie auf dem besten Wege ist, ihrem Mann das Band der Ehrenlegion zu verschaffen? Eine tüchtige Person, sage ich Ihnen. Die weiß, was sie will, sie braucht niemanden, um ihr Schifflein zu steuern.«
Sidonie sagte das nicht ohne Bedauern, in das sich Bewunderung mischte.
»Doch kommen wir auf Herrn de Saffré zurück … Er will Sie auf einem Schauspielerinnenball getroffen haben, in einem Domino, und macht sich sogar Vorwürfe, Sie in etwas zu freiem Ton aufgefordert zu haben, mit ihm zu soupieren … Ist das wahr?«
Die junge Frau war ganz überrascht.
»Vollkommen wahr«, murmelte sie. »Aber wer konnte ihm sagen …«
»Warten Sie. Er behauptet, Sie erst später, als Sie nicht mehr im Salon waren, erkannt zu haben, und erinnert sich, daß Sie am Arm von Maxime hinausgingen … Seitdem ist er rasend in Sie verliebt. Das ist ihm ganz plötzlich gekommen, Sie verstehen wohl, ein Anfall … Er hat mich aufgesucht und mich flehentlich gebeten, ihn bei Ihnen zu entschuldigen …«
»Nun, so sagen Sie ihm, daß ich ihm verzeihe«, unterbrach Renée gleichgültig.
Dann aber, aufs neue von ihrer Angst gequält, fuhr sie fort: »Ach, meine gute Sidonie, ich bin in einer schlimmen Lage. Ich muß unbedingt bis morgen früh fünfzigtausend Francs haben. Ich bin hergekommen, um die Sache mit Ihnen zu besprechen. Sie sagten mir doch neulich, daß Sie Leute kennen, die Geld verleihen?«
Die Kupplerin, ärgerlich über die brüske Art, mit der ihre Schwägerin die Erzählung unterbrochen hatte, ließ sich Zeit für ihre Antwort.
»Ja gewiß, aber ich rate Ihnen, es zunächst bei Ihren Freunden zu versuchen … Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, wüßte ich genau,
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