Die Beute - 2
höchst mittelmäßiger Bursche, der seine Rolle in einem weinerlichen Ton vortrug. »Welch ein Tölpel!« murmelte Maxime.
Doch die Ristori mit ihren mächtigen, vor Schluchzen bebenden Schultern, dem tragischen Antlitz und den starken Armen erschütterte Renée. Phädra war vom Blute der Pasiphae124, und Renée fragte sich, welchem Blut wohl sie selber entstamme, sie, die Blutschänderin der neuen Zeit! Sie sah von dem ganzen Stück nur diese große Frau, die das antike Verbrechen auf die Bühne brachte. Im ersten Akt, wo Phädra der Oenone125 ihre verbrecherische Liebe beichtet, im zweiten, wo sie sich voll Leidenschaft dem Hippolytos offenbart, und später im vierten, wo die Heimkehr des Theseus sie niederschmettert und sie sich in einem Anfall dumpfer Raserei selber verflucht, erfüllte die Ristori den Saal mit einem solchen Aufschrei wilder Leidenschaft, einer solchen Gier nach übermenschlicher Wollust, daß die junge Frau im eigenen Fleisch jeden Schauer dieses Verlangens und dieser Gewissenspein nacherlebte.
»Paß auf«, flüsterte ihr Maxime ins Ohr, »jetzt kommt die Erzählung des Theramenos126. Er hat einen guten Kopf, der Alte!«
Und mit hohler Stimme murmelte er:
»Kaum hatten wir Trözenes127 Tore hinter uns,
Er stand auf seinem Wagen …«
Doch als der Alte zu sprechen angefangen hatte, hörte und sah Renée nichts mehr. Der Kronleuchter blendete sie, eine erstickende Hitze strömte von all den bleichen, der Bühne zugewandten Gesichtern auf sie zu. Der Monolog ging endlos weiter. Renée sah sich im Treibhaus, zwischen dem glühenden Blattwerk, sah ihren Gatten eintreten und sie in den Armen des eigenen Sohnes überraschen. Sie litt furchtbar, verlor das Bewußtsein und schlug erst beim letzten Röcheln der vergifteten Phädra, die sich, von Reue zerrissen, in Krämpfen wand, wieder die Augen auf. Der Vorhang fiel. Würde sie selber die Kraft haben, eines Tages Gift zu nehmen? Wie klein und beschämend war ihre eigene Tragödie neben der Größe der antiken Dichtung! Und während Maxime damit beschäftigt war, ihr unter dem Kinn die Kapuze des Theatermantels zuzubinden, hörte sie immer noch hinter sich die starke Stimme der Ristori rollen, der das beistimmende Geflüster Oenones antwortete.
Im Wagen redete der junge Mann allein. Alles in allem finde er die Tragödie »todlangweilig« und ziehe die komische Oper vor. Immerhin sei die Phädra »blendend«. Ihn habe das Stück interessiert, weil … und in Fortsetzung seines Gedankens drückte er Renée die Hand. Dann kam ihm ein komischer Einfall, und er erlag der Versuchung, einen Scherz zu machen.
»Ich tat recht daran, in Trouville nicht zu nahe ans Meer zu gehen«, flüsterte er.
Renée, gänzlich in ihren schmerzlichen Traum versunken, schwieg. Maxime mußte seine Worte wiederholen.
»Wieso?« fragte sie erstaunt, da sie ihn nicht Verstand.
»Weil sonst das Ungeheuer …«
Er grinste. Der Scherz ließ die junge Frau erstarren. Alles verwirrte sich in ihrem Kopf. Die Ristori wurde zur großen Marionettenpuppe, die, wie Blanche Muller im dritten Akt der »Schönen Helena«, ihr Peplon128 aufhob und dem Publikum die Zunge zeigte. Theramenos tanzte Cancan129, und Hippolytos aß Marmeladestullen und bohrte mit dem Finger in der Nase.
Wenn ein besonders brennender Gewissensbiß Renée erschauern ließ, empfand sie gleichzeitig eine stolze Empörung. Was war denn eigentlich ihr Verbrechen, und warum sollte sie erröten? Begegneten ihr nicht tagtäglich noch viel größere Gemeinheiten? Traf sie nicht bei den Ministern, in den Tuilerien, überall Verworfene wie sie, die Millionen auf dem Leibe trugen und vor denen man auf den Knien lag? Und sie dachte an die schmachvolle Freundschaft zwischen Adeline d’Espanet und Suzanne Haffner, über die man zuweilen bei den Montagsempfängen der Kaiserin lächelte. Sie erinnerte sich an das Gewerbe der Frau de Lauwerens, die von allen Ehemännern wegen ihres untadeligen Lebens, ihres Ordnungssinns, ihrer Pünktlichkeit im Bezahlen ihrer Lieferanten gepriesen wurde. Sie zählte sich Frau Daste, Frau Teissière, die Baronin Meinhold, all diese Geschöpfe auf, die sich ihren Luxus von ihren Liebhabern bezahlen ließen und in der eleganten Welt wie die Wertpapiere an der Börse notierten. Frau de Guende war so dumm und dabei so gut gebaut, daß sie gleichzeitig drei höhere Offiziere als Liebhaber hatte, die sie infolge der gleichen Uniformen nicht auseinanderhalten konnte, weshalb dieser Satan von Louise
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