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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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Die Schwester seines Vorgängers König Siegfried hatte ihm zwar gute Dienste geleistet, war ihm aber jetzt, da sich auch die letzten grenznahen Sachsen ergeben hatten und umgesiedelt worden waren, nur noch eine Last. Außerdem wollte er den Kaiser in Sicherheit wiegen, um in aller Ruhe Angriffe gegen die Abodriten und gegen die relativ ungeschützte Küste Frieslands zu planen.
    »So sehen wir uns also wieder, Prinzessin Geva«, sagte Karl. Er saß im Heerlager auf seinem hohen Stuhl und musterte die stattliche alte Frau in sächsischer Tracht. Sie hatte ihren langen weißen Zopf um den Kopf gebunden und betrachtete den Kaiser aus ihm sehr vertrauten hellblauen Augen. Neben ihr stand eine jüngere Frau mit fast so weißblondem Haar wie Gerswind, die ein etwa zehnjähriges Mädchen mit goldenen Zöpfen an der Hand hielt. Gerswinds Schwester Heilwig und deren Kind Judith.
    »Wo ist meine Tochter Gerswind?«
    Wie schon knapp zwanzig Jahre zuvor erschrak der Kaiser beim Klang einer Stimme, die aus dem Grab zu kommen schien. Aus dem seiner Mutter.
    »In Aachen«, erwiderte er. »Sie ist zu einer schönen und klugen Frau herangewachsen, Prinzessin Geva. Davon wirst du dich demnächst selbst überzeugen können. Dein Kampf ist vorbei. Das Sachsenland ist befriedet und christlich.«
    »Seines Stolzes beraubt«, versetzte Geva.
    »Ein falscher Stolz, der viel Leid verursacht hat«, entgegnete Karl. »Seit über dreißig Jahren schlage ich mich mit euch herum und bin darüber alt geworden. Jedes Jahr ein Heerzug. Jedes Jahr wird mir danach Treue geschworen und heuchlerisch gehuldigt. Ich lasse also Gnade walten und werde im Jahr darauf abermals betrogen. Mordend und brennend ziehen deine Leute durchs Land. Das ist vorbei, Prinzessin Geva, endgültig vorbei! Ich bin es müde, die Felder von toten Sachsen und Franken bedeckt zu sehen, bin es leid, Lehenseide anzunehmen und enttäuscht zu werden. Die Grenzen meiner Milde sind erreicht.«
    »Eine Milde«, entgegnete Geva scharf, »die sich in Verden an der Aller aufs allerbeste gezeigt hat. Erinnerst du dich noch? Niedergemetzelt hast du nahezu fünftausend unbewaffnete Männer, die sich ergeben hatten. Eine Milde, die jeden, der sich ihr aussetzt, an den Bettelstab bringt. Eine Milde, die Eltern von ihren Kindern trennt. Eine Milde, die Menschen mit Gewalt zum Treueid zwingt. Ein solcher Schwur ist nach unseren Gesetzen nicht bindend. Eine Milde, die den Menschen mehr abverlangt, als sie aufzubringen vermögen, eine Milde, die sie hungern und darben läßt. Gnade jenen, Kaiser Karl, die auf deine Milde angewiesen sind.«
    Trotzig hob sie das Kinn und sah Karl unverwandt an. Bertradas Stimme und Gerswinds Augen. Er räusperte sich und sagte sachlich: »Ist dir denn nicht bekannt, Prinzessin Geva, daß ich deinen Sachsen außer dem Kirchenzehnt inzwischen alle Abgaben erlassen und euren Adligen ihre Grafschaften zurückgegeben habe? Dies ist auf Fürsprache deiner Tochter und des Abtes Alkuin geschehen. Friede seiner Seele.«
    Karl hielt einen Augenblick inne. Die Nachricht vom plötzlichen Tod des Abtes von Tours hatte ihn erst am Morgen erreicht und zutiefst bestürzt. Sicher, Alkuin hatte schon seit Jahren auf die eigene Gebrechlichkeit hingewiesen, doch dies waren für Karl stets Ausreden eines reisemüden Kirchenmannes gewesen.
    »Meine Tochter entsinnt sich also ihrer sächsischen Wurzeln?«
    Diesen spöttischen Ton hatte Karl schon bei seiner Mutter verabscheut. Scharf entgegnete er: »Als vorbildliche Christin liebt sie ihren Nächsten.«
    »Jemand Bestimmten? Hat sie mich mit Enkelkindern beglückt?«
    Karl beschloß, das Gespräch mit dieser verbitterten Frau abzukürzen.
    »Du hast mir viel Kummer gemacht, Prinzessin Geva. Ohne dich wäre im Lande längst Frieden eingekehrt. Jetzt sind dir die Flügel gestutzt, und du wirst mich mit deiner Tochter und deiner Enkelin nach Aachen begleiten. Gerswind wird sich freuen.«
    Gerswinds Freude hielt sich in Grenzen, als sie am Aachener Hof in Karls Audienzsaal im westlichen Torbau ihrer Mutter gegenüberstand. Diese gebrochene alte Frau sollte stolz am Bug eines Drachenschiffs gestanden, unzählige Aufstände angezettelt, Männer zum Kampf angespornt und Karls Leute in Angst und Schrecken versetzt haben?
    Stumm sahen sich Mutter und Tochter an, und in Karl regte sich so etwas wie Mitleid, als er Gerswind beobachtete. Wieder fühlte er sich an seine eigene Mutter erinnert. Wie kommt es, überlegte er, daß einstmals tatkräftige

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