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Die Beutefrau

Die Beutefrau

Titel: Die Beutefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martina Kempff
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und nach dem er höchstselbst die Begriffe Kapelan und Kapelle formuliert hatte? Cappa , der Mantel, der im Gotteshaus aufbewahrt wurde …
    Jener Mantel, von dem sein Vater einst ein winziges Stück abgeschnitten und zum Schutz der Familie in eine Lade gesteckt hatte. Jenes Stück, das Karl als Kind seinem Bruder Karlmann in den Mund gestopft hatte, als er ihn in den Schweinetrog steckte, um ihn für alle Zeiten zum Verstummen zu bringen. Jahrzehnte später räumte Karl den Eberzahn weg und nahm genau dieses Stück des Martinsmantels mit in den Krieg. Er zog sich eine Wunde an der Lende zu, gewann aber die Schlacht.
    Doch der andere Sieg, den er errungen hatte, erschien ihm erheblich bedeutender. Bis er danach heimritt und die noch kleine Gerswind, die sich wieder einmal davongemacht hatte, vor der Palisadenumzäunung der Pfalz entdeckte und vor sich auf sein Pferd hob. Das Mädchen sah ihm ernst in die Augen und sagte: »Der Eber hat dich in die Seite gebissen. Du darfst ihn nicht mehr allein lassen. Er mag den Mantel nicht.«
    Was hatte sie zu dieser Bemerkung veranlaßt? Sie konnte weder von seinem Eberzahn noch von seiner Verletzung oder dem Stück des Mantels etwas wissen. Sie war nur ein kleines Mädchen. Und doch hatte er genauso ernst geantwortet: »Ich werde den Mantel verstauen und dem Eber ein gutes Zuhause geben.«
    Und dir auch. Er hielt sein Versprechen. Das kleine Mantelstück wurde wieder an das halbe Gewand genäht, der Zahn kam in das geschnitzte Kästchen, und Gerswind zog in die Kinderstube seiner Töchter. Doch jedesmal, wenn ihm das weißblonde Köpfchen begegnete, schien aus einer verschlossen gehaltenen Kammer seines Herzens eine Stichflamme aufzulodern, die in nichts der Wärme glich, die ihn beim Anblick der eigenen Kinder umfing. Ein Erlebnis, das ihn stets aufs neue beunruhigte.
    Er war sehr erleichtert, als Gerswind zur Frau heranwuchs und er dieses Feuer einem anderen und durchaus verständlichen Ursprung zuordnen konnte. Gerswind war schön und begehrenswert. Durch die körperliche Vereinigung wollte er diese Verbundenheit der jungen Sächsin mit einer unerklärlichen, ja fast bedrohlich erscheinenden Vorzeit bannen und seine Neigung in die vertraute Gegenwart überführen. Das war nicht geglückt. Im Gegenteil. Die erste Umarmung war ihm wie eine Rückkehr in die verlorengegangene Heimat erschienen. Das hatte ihm nicht nur großes Behagen verschafft, sondern auch jenes Gefühl der Unbesiegbarkeit verliehen, das die großen Helden der heidnischen Dichtung zu ungeahnten Leistungen anspornte.
    Ein gefährliches Gefühl, eine Flamme, die nicht nur ihn versengen würde, wenn er sich ihr überließ. Eine Flamme, die all jenes in ein freundliches Licht versetzte, was er und seine Vorfahren seit Jahrzehnten so grimmig bekämpft hatten. Die ihn wärmte und ihn gleichzeitig warnte: Nimmst du mich an, verleugnest du das andere Licht.
    Er haderte mit seinem Gott. Zeig mir dein Licht, beschwor er das Jesusbild in seiner Pfalzkapelle. Zeig mir, daß du stärker bist! Nichts geschah. Was hatte er denn erwartet? Ein Wunder? Ja, natürlich, was sonst! Er, der Kaiser, rief seinen Gott an, und der hatte gefälligst zu antworten! Er, der Kaiser, der die Bilderverehrung als ketzerisch verworfen hatte, saß jeden Tag vor dem Mosaikbild Jesu und hielt mit ihm Zwiesprache. Doch dieser Gott war den heidnischen Gewalten überlegen. Er bedurfte keiner Zeichen. Und mit Sicherheit auch keines Bildes.
    Er war Gerswind dankbar, daß sie sich ihm jahrelang entzogen hatte und doch bei ihm geblieben war. In dieser Zeit rang er mit Gott und den Welten und fand den Weg, sich von einer Vergangenheit zu verabschieden, deren ungeheuren Einfluß er sich erst so spät hatte eingestehen und schließlich auch entziehen können.
    Nachdem sich Gerswind mit ihren einfachen Worten endlich zu ihm bekannt hatte, wußte er, daß der Bann gebrochen war. Das, was er als die alte Heimat bezeichnete, stellte nicht länger eine Bedrohung, sondern eine Bereicherung dar. Warum sollte er das heidnische Liedgut unterdrücken oder vernichten? Es war Teil seines eigenen Seins, das seines Volkes und gehörte somit zu den Ursprüngen, deren man sich nicht zu schämen brauchte.
    Es ging nicht um Umsturz, sondern um Aufbau. Und unbestreitbar bargen diese alten Texte manche Weisheit. Karl wollte keine Tempel mehr gänzlich vernichten, sondern ihr Material zum Umbau verwenden. Bonifatius hatte empfohlen, Kirchen auf heidnischen Tempeln zu errichten,

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