Die Beutefrau
ihr Tuch nur tief genug ins Gesicht ziehen, um einer möglichen Entdeckung zu entgehen.
Ihre Sorge, erkannt zu werden, erwies sich zunächst als unbegründet. In Frankfurt wurden ihr und jenen Personen des Gefolges, die nicht unmittelbar mit Aufgaben im Haushalt des Königs betraut waren, auf einem Hügel oberhalb der repräsentativen Bauten, weit abseits des Wohnturms der Königsfamilie, ein paar Lehmhütten mit Werkstätten zugewiesen.
Eine Magd brach in lautes Gelächter aus, als Gerswind verwundert fragte, wo sie denn schlafen solle.
»Die erlauchte Herrin wünschen ein Schlafgemach!« höhnte die Magd. Sie deutete auf den Lehmboden zwischen zwei Webstühlen. »Euro Gnaden kann sich dort niederlassen«, sagte sie, »oder dort.« Jetzt wies sie auf die Ecke, aus der Gemecker von Ziegen kam. Vor dem Gestank hatte sich Gerswind bereits die Nase zugehalten.
Im Prümer Genitium hatte sie sich zwar mit anderen Frauen das Bett geteilt, dabei aber auf einer mit Stroh gefüllten Matratze gelegen und sich mit einem Schaffell zudecken können. Als Wärmequelle wurden dort im Winter manchmal auch ein paar Schafe untergebracht, aber niemals Ziegen.
»Wenn dir zu kalt wird, kannst du ja zu den Ziegen kriechen oder dich mit deinen feinen Stoffen bedecken«, setzte die Magd kichernd hinzu.
Während Gerswind noch überlegte, ob sie möglicherweise in einem anderen Wirtschaftsgebäude ein Nachtlager finden könnte, wurde sie plötzlich von hinten angegriffen. Eine kräftige Magd zerrte ihr das Tuch vom Kopf, riß sie an den Haaren nach hinten und hielt ihr ein Messer an die Kehle.
»Zieht sie aus!« befahl sie den anderen Mägden. »Vielleicht trägt sie etwas Wertvolles am Leib.«
Mehrere nach Bier stinkende Frauen fielen grunzend wie Schweine über sie her und rissen ihr die Kleidung vom Leib. Gerswind zitterte vor Angst, Wut und Kälte. Enttäuscht, daß die Neue überhaupt nichts Brauchbares bei sich führte, stieß die Anführerin Gerswind zu Boden. Über dem gedemütigten Mädchen thronend, hielt sie triumphierend eine lange weißblonde Haarsträhne hoch, die sie mit dem Messer abgesäbelt hatte.
»Das ist erst der Anfang!« fauchte sie. »Beim nächsten Ungehorsam reiße ich dir die Haare aus! Näherin!« Sie lachte hämisch. »Du hältst dich wohl für etwas Feineres? Nun wisse: Hier bist du nichts anderes als meine Sklavin, und wenn du nicht verhungern willst, leistest du mir einen Treueid und tust, was ich dir auftrage. Du kannst gleich damit anfangen, den Ziegenstall auszumisten.« Sie verpaßte Gerswind einen Tritt, schrie die anderen Frauen an, wieder an die Arbeit zu gehen, und verließ die Werkstatt.
Benommen blieb Gerswind am Boden liegen. Noch nie hatte sie solche Todesangst ausgestanden. Nicht einmal, als sie vom Königshof aus Furcht um ihr Leben geflüchtet war. Damals war sie auf sich gestellt gewesen, hatte sich bei Gefahr verbergen können und von anderen Hilfe erhalten. Aber hier? Sie sah sich um. Es gab keinen Ausweg. Sie war dieser schrecklichen Frau ausgeliefert und würde ihr Leben in ständiger Angst vor Hunger und körperlicher Züchtigung fristen müssen.
Langsam erhob sie sich, wischte sich so gut wie möglich den Schmutz vom Leib und zog sich die zerrissene Kleidung wieder über.
Nein, hier konnte sie keinesfalls bleiben. Aber zum Davonlaufen fehlte ihr die Kraft. Wo sollte sie auch hingehen? Sie trat vor die Tür und blickte zu den eindrucksvollen Bauten am Mainufer hinunter. Dort wohnte die Königsfamilie. Aber dort arbeiteten und lebten auch zahlreiche Bedienstete. Und als Näherin der Königin sollte dort auch für sie Platz sein. Ja, sie würde sich dem Hofmeister vorstellen und einen angemessenen Arbeitsplatz fern ihrer Peinigerin verlangen. Sollte sie jemand erkennen, würde man sie vielleicht als geflüchtete Geisel hinrichten. Gerswind zuckte die Achseln. Nach dieser Erfahrung hatte der Gedanke viel von seinem Schrecken verloren. Es gab tatsächlich Schlimmeres als den Tod.
Gerswind holte tief Luft und stürmte aus der Hütte. Sie rannte den Hügel hinunter, eilte an der für die ausländischen Gesandten erbauten Zeltstadt sowie der riesigen zweigeschossigen Königshalle vorbei und verlangsamte ihren Schritt erst, als sie sich dem hohen Wohnturm im Westen näherte.
Ob ihr Herzklopfen von dem gräßlichen Erlebnis kam, von ihrem schnellen Lauf oder von der Furcht, plötzlich einem bekannten Gesicht zu begegnen, hätte sie nicht sagen können. Ihr ging nur kurz durch den Kopf,
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