Die Beutefrau
ins Freie nicht an Gerswinds Kammer vorbeikamen, konnte sie nicht erwarten, ihren früheren Spielkameraden ständig über den Weg zu laufen. Sie wünschte, ihr Fensterspalt wäre breiter. Dann hätte sie wenigstens gelegentlich einen Blick auf Carolino werfen können.
An einem warmen Julimorgen kehrte sie von ihrem täglichen Bad im Main in den Wohnturm zurück. Noch von der Sonne geblendet, rannte sie in den dunklen Gang und stieß dort mit einer Gestalt zusammen.
»Unerhört!« vernahm sie eine unbekannte junge Männerstimme, der ein quengeliger Ton anhaftete. »Wie kann man an diesem Hof Ordnung halten, wenn Weibsbilder nicht wissen, wo sie hingehören!«
Gerswind entschuldigte sich und sah dem jungen Mann hinterher, der sich vor dem Turm auf ein bereitgehaltenes Pferd schwang.
»Ja, unser Bruder Ludwig ist allzeit von erfrischender Offenheit«, hörte sie die ihr immer noch vertraute Stimme Rotruds hinter sich. »Du bist die neue Näherin?«
Gerswind zog sich das Tuch ins Gesicht, nickte und verneigte sich.
»Du brauchst dich vor mir nicht zu verneigen – bist ja selbst eine Grafentochter, wie ich vernommen habe. Linde, nicht wahr?«
Gerswind nickte wieder.
»Ich weiß, daß du zur Zeit viel zu tun hast, liebe Linde«, fuhr Rotrud fort, »aber nicht nur unsere Stiefmutter braucht schöne Gewänder für die abendlichen Gelage. Kannst du es bis heute abend schaffen, auf eines meiner Kleider neue Bänder zu nähen?«
Gerswind nickte, obwohl sie keine Ahnung hatte, wie sie das fertigbringen sollte. An Fastradas Kleid gab es noch eine Menge zu tun.
»Ich lege ein Säckchen mit Steinen dazu. Wenn du Zeit findest, fasse Ausschnitt und Ärmel damit ein.«
Rotrud nickte ihr freundlich zu und ging hinaus ins Freie. Dort wartete ein junger Mann auf sie, und Gerswind beobachtete erstaunt, wie dieser Rotrud in den Arm nahm und sie im prallen Sonnenschein mitten auf den Mund küßte. Für jeden sichtbar! Als sie genauer hinblickte, erkannte sie Rorico. Aus jenem Knaben der Hofschule, der Gerswind vor vielen Jahren die Gesellschaft Rotruds streitig gemacht hatte, war ein stattlicher junger Mann geworden. Und Rotrud spielt immer noch mit ihm, ging es Gerswind durch den Kopf.
Sie blickte zum wolkenlosen Himmel hinauf und beschloß, an diesem Tag ihren Arbeitsplatz auf den Hof hinter dem Wohnturm zu verlegen. Im Sonnenlicht würde sie schneller und fehlerloser nähen können als im Halbdunkel ihrer Kammer bei der blakenden Öllampe.
Der Diener, der ihr am ersten Tag so herablassend begegnet war, trug eilfertig ihren kleinen Tisch und den Hocker unter einen Baum. Gerswind ergriff ein Oberkleid aus rostbrauner Seide, das mit Goldfäden bestickt war und an dem sie bis zum Abend noch ein kleines orientalisches Muster anzubringen hatte. Um zu sehen, wie dieses am besten zur Geltung kommen könnte, nahm Gerswind ihr langes Tuch ab und zog sich das Kleid selbst über. Es würde der Königin bis zu den Füßen reichen und war vorn in seiner ganzen Länge geöffnet, damit bei bestimmten Bewegungen das ebenso edle Unterkleid sichtbar wurde. Gerswind warf sich das lange weißblonde Haar über die Schultern, stellte sich sehr aufrecht hin, streckte die Brust hervor und sah an sich hinab.
»Welch ein erfreulicher Anblick an diesem politisch so garstigen Tag!« vernahm sie plötzlich die Stimme des Mannes, von dem sie schon so lange träumte. Erschrocken wandte sie sich um und sah in die Augen Karls des Jüngeren, der ein paar Schritte entfernt auf einem braunen Hengst saß und sie mit offensichtlicher Bewunderung anlächelte.
»Nein!« wehrte er ab, als sie nach ihrem Tuch griff, »da ich annehme, daß du unverheiratet bist, solltest du der gleichfalls unverheirateten Männerwelt den Blick auf dein schönes Haar gönn…« Er stockte, und ein seltsamer Ausdruck trat in seine Augen. Gerswind hielt den Atem an.
»Du solltest das Tuch doch wieder umlegen«, sagte er dann ganz unvermittelt mit einer Stimme, die aus einer Eiswolke zu kommen schien. Er trat seinem Pferd in die Flanken und galoppierte ohne ein weiteres Wort davon.
Gerswind blieb wie angewurzelt stehen und zitterte am ganzen Leib. Er hatte sie erkannt! Immer wieder hatte sie sich ausgemalt, wie ihre erste Begegnung mit Carolino verlaufen würde, und sich dabei stets vorgestellt, wie erfreut er über ihr Wiedererscheinen sein würde. Wie er ihr Geheimnis hüten, sie heimlich besuchen, besser kennen- und letztendlich natürlich liebenlernen würde. Nie hatte sie auch
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