Die Beutefrau
sich wie bunte Schlangen zwischen den spärlichen Grashalmen im Hof bewegten.
»Ich nehme an, du hast mir Arbeit gebracht?«
Hruodhaid nickte.
»Von Rotrud?«
Wieder nickte die Zehnjährige.
»Das tut mir leid. Ich muß nämlich erst das Gewand der Königin fertigstellen und habe meine liebe Not damit, dies bis zum Abend zu schaffen …«
Jetzt schüttelte Hruodhaid den Kopf.
»Nicht?« fragte Gerswind zweifelnd. »Die Königin braucht ihr Oberkleid heute abend nicht?«
»K… k… krank«, formulierte Hruodhaid angestrengt.
»Wenn ich dich recht verstehe, ist Königin Fastrada zu krank, um heute abend am Gelage teilzunehmen, weshalb ich mich gleich an das Gewand von Rotrud setzen kann?«
Beglückt nickte Hruodhaid. Endlich war wieder jemand da, der sie verstand, ohne daß sie fertig formulierte Sätze zustande bringen mußte, jemand, der ihre Schwierigkeit weder belächelte noch kritisierte.
»Du hast mir so gefehlt, Gerswind«, sagte sie mit einem Mal. Vor Schreck über einen vollendet ausgeführten Satz hielt sie sich die Hand vor den Mund.
»Willst du mir bei der Arbeit helfen, Hruodhaid?« fragte Gerswind.
»Du w… w… weißt doch, wie unge… ungeschickt ich bin.«
»So, wie du einen Satz ohne Stottern sprechen kannst, so wirst du auch ein Band ohne Fehlstich festnähen können. Schließlich weiß ich doch, daß du recht gut mit den metallenen Fäden umgehen kannst«, versicherte Gerswind. »Komm, ich zeig es dir.«
Die Sonne stand schon sehr tief, als Karl der Jüngere in den Hof hinter dem Wohnturm lugte und einen Rotschopf dicht neben einem grauen Kopftuch sah, dem ein paar weißblonde Strähnen entwichen waren. Zum ersten Mal seit langem hörte er seine Halbschwester Hruodhaid lachen. Er sah, wie das Sachsenmädchen ihr ein Stück Stoff aus der Hand nahm, es musterte und dann anerkennend nickte. Nein, dachte er, dieses Mädchen ist nicht gekommen, um Unruhe zu stiften. Sie verbreitet Frieden. Das Herz, das sich allzu lange nach einer hellblonden Prinzessin auf einer unwirtlichen Insel im Norden gesehnt und sich aus Kummer verschlossen hatte, ging ihm endlich wieder auf.
Er widerstand der Versuchung, sich zu den beiden Mädchen zu begeben. Sie ist erst zwölf, schalt er sich, ich darf ihr nicht zu nahe kommen. Er sollte es seinem Vater überlassen, Kinder zu begehren, zu ehelichen, zu schwängern oder alles zusammen. Leise entfernte er sich wieder.
In der Haupthalle ruhten an diesem Abend aller Augen auf Rotrud. Sie war nicht nur besonders schön herausgeputzt – Frauen des Hofes tuschelten über den schweren Goldschmuck, mit dem sie sich reichlich behängt hatte, und über die vielen bunten Seidenbänder an ihrem Kleid, von denen einige übrigens recht nachlässig festgenäht waren –, sondern in ihren Augen glomm ein besonderes Leuchten. Sie warf ihrer Schwester Berta, die etwas zu dicht neben dem Kaplan Angilbert saß, ein vielsagendes Lächeln zu. Berta rückte so nahe an Angilbert heran, daß ihr Knie das seine berührte, und nickte ihrer Schwester verschwörerisch zu. Beide hatten lange auf einen solchen Abend gewartet – auf eine Mahlzeit, bei der König Karl nicht die Aufmerksamkeit aller Anwesenden einfordern und Fastrada ihre Stieftöchter nicht mißbilligend herumkommandieren würde.
Das Königspaar würde an diesem Abend dem Speisen fernbleiben, hatte der Seneschall den Herrschaften an der erhabenen Tafel bedauernd mitgeteilt. Der König ziehe es vor, seiner überaus geschwächten hohen Gemahlin in ihrer Kemenate Gesellschaft zu leisten.
»Geschwächt«, flüsterte Rotrud ihrem Begleiter Rorico ins Ohr. »Ich habe von meinem Vater gelernt, mir die Schwächen anderer zunutze zu machen.« Sie wies den Mundschenk an, mehr des köstlichen Falerner Weins in Roricos Becher einzuschenken.
»Man sagt, du hast eine ganze Kammer für dich allein, mein lieber Rorico«, fuhr Rotrud im Plauderton fort. »Die würde ich heute nacht nur allzugern besichtigen.«
Rorico verschluckte sich fast an seinem Wein. Rotrud sah zu Berta, die in diesem Augenblick Angilbert ebenfalls etwas ins Ohr flüsterte. Laut Abmachung zwischen den Schwestern würde sie sich bei ihm darüber beklagen, daß Rotrud die heutige Nacht nicht im gemeinsamen Zimmer verweilen und sie selbst aus lauter Angst vor der Dunkelheit allein im Bett bestimmt kein Auge zutun würde. Angilbert begriff offensichtlich schneller als Rorico, denn er hob eine Augenbraue und gab eine Antwort, die leises Kichern bei Berta
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