Die Bibel für Eilige
deuten, sich fragen, was in bildhafter Rede symbolisch und über die Zeiten hinweg ausgedrückt
wird und was auf anderes gleichnishaft verweist
(allegorischer Sinn)
. Er kann sich in den Text hineinversenken und seine Botschaft, eine Stimme von weither für sich persönlich hören, Wort für
Wort meditierend, hin und her erwägend, bis er spürt, in welcher Weise dies ihn selbst betrifft (oder eben nicht betrifft)
und was er daran in seinem Leben schon erfahren hat – zwischen Leben und Tod, Liebe und Leid, Sinnerfahrung und Daseins-Verzweiflung
(existenzieller Sinn)
. Schließlich kann er ihn streng theologisch lesen und sich fragen, was Gott in diesem Abschnitt zu mir heute sagen will;
wie wird mir vom Unbegreiflichen etwas begreiflich, was ist |36| mir von dem Unsagbaren her mit welcher Verbindlichkeit gesagt, wozu bin ich aufgerufen, was ist mir zugesagt, worin werde
ich in meinen Verirrungen, Entfremdungen, meinem Versagen entlarvt und wozu werde ich (dennoch!) ermutigt – aus Gnade und
Barmherzigkeit
(theologischer Sinn)
.
Alle diese Verstehens-Versuche haben eine bestimmte Schnittmenge des Gemeinsamen, die man auch auf eine Frage reduzieren kann:
Was steht da –
und
was steht drin?
Dabei wird sich freilich herausstellen, dass es Texte minderer existenzieller Bedeutung und Texte größter existenzieller Dichte
und Nähe gibt, dass es ganz Fremdes und historisch Überwundenes, ja Erschreckendes und nicht zur Nachahmung Empfohlenes gibt
und anderes, das ganz leicht und erleichternd auf den Leser zukommt, geradezu erhellend für das eigene Leben und die eigene
Zeit wird.
Man denke nur an einzelne, ganz schlichte Worte, die durch ihren Kontext eine kaum auszulotende Weite und Tiefe erhalten:
»Was ist Wahrheit?«, fragt Pilatus, sich die Hände waschend.
»Ecce-Homo« – Siehe, der Mensch! Siehe, welch ein Mensch! sagt der, der Jesus verurteilt, zu dem Volk, das ihn verurteilen
will, um dessen Mitleid zu erregen. Und es bleibt zugleich ein Wort – mit einem verdichteten Vielfachsinn. »Du bist der Mann!«
– ein Wort, das Nathan dem König David sagt, nachdem er ihn eines Verbrechens überführt hat und David sich selber schon Voraus
das Urteil gesprochen hatte über den Mann, der wegen seiner Tat verurteilt werden muss.
»Und er zog seine Straße fröhlich«, wird über einen Mann aus Äthiopien erzählt, dem unterwegs auf seiner Reise die Bibel erklärt
wird. Wer dies bloß als eine vergangene Geschichte für einen Menschen auf der Heimkehr von Jerusalem |37| nach Äthiopien im Jahre 40 unserer Zeitrechnung versteht, hat nichts verstanden.
Einfachste Sätze sind es häufig, die durch ihren Kontext sprechen, einen Vielfachsinn, Hintersinn, Tiefsinn – bei allem Einfachsinn
von Worten – haben: Tohuwabohu, himmelschreiend, Linsengericht, fette Jahre – magere Jahre, Gelobtes Land, Zeichen der Zeit,
Krethi und Plethi, Pharisäer, salomonisches Urteil, ein Ende mit Schrecken, Samariterdienst, zweischneidiges Schwert, Prediger
in der Wüste, die Spreu vom Weizen trennen, den Himmel offen sehen.
Wer die Bibel liest, wird im buchstäblichen Sinn wenig »Sinn« finden,
sofern
es ihm nicht gelingt, den Hintersinn, das Hinter- und Abgründige, das Weitergehende und Weiterführende mitzulesen. Wem Wortbilder
verschlossen sind, bleiben biblische Texte rätselhaft. Er versteht nur Oberfläche und lehnt sie in einem Primitiv-Rationalismus
ab, den er für Klugheit hält. Er wird diese Texte entweder banal oder mysteriös, widersprüchlich oder gar irreführend finden.
Dabei geben sie Welt und Menschen wieder, wie sie sind, allerdings »tendenziell« erzählt.
Wer einen Schlüssel gefunden hat, dem werden sich Welten auftun. Es geht nicht zuerst darum, ob man
glaubt
, was da erzählt wird, sondern ob darin etwas steckt, was einen so konkreten wie verallgemeinerbaren Charakter hat – und
mir
etwas mitteilt. Dabei wird man sich bemühen, nichts
rein zu lesen
, sondern das
heraus
zulesen, was im Text verborgen ist. Es gibt einen existenziellen, einen im Prinzip
alle
Menschen betreffenden und zugänglichen Sinn – etwas über unsere Herkunft und Zukunft, unsere Bestimmung und Verfehlung, unseren
Ursprung und unser Ende, unsere Hoffnung und Verzweiflung, unsere Liebe und Herzenshärte, unser Vertrauen und die Enttäuschung,
unsere Gutartigkeit und unsere Bösartigkeit, über Erlösung und Verdammung, unsere Zwietracht und die Eintracht, über den Widerstand
und die
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