Die Bibel für Eilige
erklärte?« 6 Hier wird mit der Absicht, mehr Verständlichkeit durch mehr Alltäglichkeit zu erreichen, die Banalität zum Prinzip. Solche
Sprache ist nicht mehr in Musik übersetzbar. Holprigkeit der Verständlichkeit – ohne Hinter-Sinn.
Der Doppelsinn der Geschichte ist aus dem Text eliminiert. Es geht um die Banalität von ›bleib doch noch ein bisschen‹. Und
der Abend ist nur das Ende eines Tages, während in Luthers Übersetzung »der Tag hat sich geneigt – und es will Abend werden«
die ganze Hintergründigkeit der Vorstellung vom Abend des Tages
und
vom Abend der Welt enthalten ist. Noch stärker wird der Unterschied bei der Übersetzung der Szene des Abendessens deutlich.
Bei Luther heißt es: »Und es geschah, als er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen.«
Nahm, dankte, brach’s, gab’s.
In der neueren Übersetzung heißt es: »Als er mit ihnen beim Essen ausruhte, nahm er das Brot in die Hand, dankte, zerbrach
es und gab es ihnen weiter.«
›Das Brot brechen‹ und ›ein Brot zerbrechen‹ – welch ein Unterschied!
Die Evangelisten sind allesamt Schriftsteller. Sie sind nicht Zeugen des Geschehens, sondern geben Zeugnis von einem Geschehen.
Der Duktus der Erzählung ist nüchtern. Sie |170| gestalten das ihnen überlieferte Material, ordnen und ordnen eigenständig zueinander.
Das Land, in dem Jesus lebte, bekommt klare Konturen – wie nebenbei: die Wüste und der See Genezareth, die Fischer beim Flicken
der Netze, dümpelnde Boote, vergebliche Arbeit, ein plötzlicher Sturm schlägt Wasser in die Schiffe. Von Motten und Würmern
ist die Rede, von Huren und Dieben, Säufern und Fressern, Blinden und Lahmen, Besessenen und einem jungen Mann aus gutem Hause,
frommen Eiferern und bösartigen Spöttern, gleichgültigen Zeugen und gegeißelten Anhängern, von Kindern und Gaunern, von einem
Volk, das ihn jammert, und einem Volk, das zum Mob wird.
Nicht ohne Komik wird erzählt, wie der nackte Jüngling bei der Verfolgung sein Hemd fallen lässt oder wie der gelähmte Mann
von den Trägern durch das Dach des Hauses gehievt wird, wie der kleinwüchsige Zöllner Zachäus auf einen Baum steigt, um auf
sich aufmerksam zu machen, wie die bösen Geister ausfahren und auf ihre Bitte hin nicht in die Hölle, sondern in die Säue
fahren, um sich dann kollektiv in den See zu stürzen, wie die erschrockenen Sauhirten in die Stadt rennen und erzählen, was
sie erlebt haben, und man daraufhin Jesus bittet, die Gegend zu verlassen. Solch ein Mann ist kein Wirtschaftsfaktor, kein
Standortmagnet.
Eine Mutter bittet, auf Knien, für ihre Söhne um eine steile himmlische Karriere, was andere Jünger wütend macht, die selber
Stellvertreterposten scharf im Auge haben. Und sie alle geben damit Jesus eine Vorlage, ihnen zu erklären, wie er zur Macht
steht.
»Ihr wisst, die als Herrscher gelten, halten ihre Völker nieder, und ihre Mächtigen tun ihnen Gewalt an. Aber so ist es unter
euch nicht; sondern wer groß sein will unter euch, der soll euer Diener sein; und wer unter euch der Erste sein will, der
soll aller Knecht sein. Denn auch
der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er |171| sich dienen lasse, sondern dass er diene und sein Leben gebe als Lösegeld für viele.
«
(Markus 10, 42–45)
Immer wieder Erzählungen, in denen Missverständnisse aufgedeckt werden, Lehrgespräche unterwegs, die Anlässe im Alltag findend,
nicht in abstrahierender Büchergelehrsamkeit, sondern in glühender Mittagshitze, auf stürmischer See, an einem einsamen Brunnen,
am Ufer des Sees, während einer Hochzeitsfeier oder am Sabbat in einer Synagoge. Da kommt der Mann mit der verdorrten Hand,
und Jesus schert sich nicht um den Sabbat, sondern lässt sich rühren von dem, der Hilfe braucht, und rührt ihn – ihn heilend
– an. Am heiligen Sabbat.
Wer die Geschichten und die Anlässe zu diesen Geschichten nach den Zeugnissen der vier Evangelisten durchginge, würde zu dem
Ergebnis kommen, dass alle Fragen, um die es im Menschengeschick und in der Menschengeschichte geht, angesprochen sind. Ihre
Mehrschichtigkeit macht ihren Reichtum wie ihre Missdeutbarkeit aus. In den Geschichten steckt stets
mehr
als das Problem, auf das sie gemäß unserer Wirkungsgeschichte hinauslaufen. Insofern sind sie immer wieder
neu
zu lesen, ohne dass wir davon absehen können, dass sie eine Wirkungsgeschichte hinter sich haben, von der wir nicht mehr
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