Die Bibel für Eilige
Unbefleckte,
ästhetisch Vollkommene, weil moralisch Reine, am Kreuz hängt.
Und die vier Symbole der Evangelisten (wie sie Ezechiel in seiner sog. Thronwagenvision gesehen hat) zieren die vier Enden
des Kreuzes. Der Vollkommene am Kreuz! Vollkommene Schöpfung Gottes wird der Bösartigkeit des Menschen ausgeliefert, am lebendigen
Leibe ans Kreuz genagelt. Er liefert sich aus, mit Demutsgeste wird er abgebildet, jenem angedeuteten S in der Körperform
der gotischen Kunst.
Der Gemarterte wird erst wieder sichtbar in aller Drastik und Dramatik im Grünewald’schen Isenheimer Altar. Ecce homo! Der
Gemarterte. Der Pestkranke.
Ostern nicht denkbar ohne Karfreitag. Langer Konflikt der Theologien und der Kirche: Die Prunk- und Machtkirche mit vergoldeten
Kreuzen und dem entrückten Pantokrator in kostbarstem Mosaik, präsentiert und repräsentiert die Theologia Triumphans und den
Triumph der Kirche! Mächtigstes Symbol nach der Hagia Sophia: der Petersdom in Rom. Was hat das noch mit dem armen Jesus aus
Nazareth und dem Fischer Petrus zu tun?
Ihr gegenüber steht die Theologia Crucis: der Christus von Karfreitag her, der Christus als leidender Gottesknecht (Jesaja
53), der Gerechte, der sich schinden lässt und sich für andere hingibt. Daraufhin eine Kirche, deren »Schatz« die Armen sind.
Da wird von Karfreitag her auf Ostern hin gedacht – und im Osterereignis immer auch auf Karfreitag verwiesen. Der Auferstandene
ist nicht ohne seine Nägelmale denkbar. Sein Machtwort ist sein Wort der Liebe, nicht die erhobene Faust, sondern die ausgebreiteten
Arme. Der Protest des Protestantismus beruht letztlich in dieser Reklamation der Menschlichkeit Gottes und seiner Zugewandtheit
zu diesem |178| Leben, gipfelnd in seinem Leiden am Karfreitag. Reformation ist der stete Protest gegen eine Kirche, die sich zusammen mit
ihren Repräsentanten selbst vergottet und sich zur Heilsmittlerin verklärt, wo doch der Vermittler des Heils allein der
Jesus
ist, der zum
Christus
wurde.
Luther fasst diese Dialektik in den Satz: »Wahrer Gott
und
wahrer Mensch«. Und so der Mensch: Gerechter
und
Sünder!
Die Ostkirchen und die römisch-katholische Kirche repräsentieren eine eschatologische (jenseitige) Hoffnung, wo in den prächtigen
Kirchen ein Vorschein des himmlischen Jerusalem ebenso erlebbar werden soll wie im feierlichen Hochamt mit allem Sinnenschmaus!
In allen Evangelien findet sich schöpferische Anverwandlung von Tradition. Was die Evangelisten aufschreiben, ist historisch
schwer belegbar. Sie interpretieren, was sie gehört haben, in
seinem
Sinne. Mit allem Widersprüchlichen. Lukas als Arzt sieht Jesus als jenen, der sich den Verlorenen zuwendet, diese aufsucht
und einlädt: im Gleichnis vom verlorenen Sohn (das eigentlich das »Gleichnis vom liebenden Vater« heißen muss) oder im »Gleichnis
vom verlorenen Groschen, vom verlorenen Schaf, vom großen Abendmahl« – jener Einladung an die, die sonst nirgendwo Zugang
bekommen: »Geh schnell hinaus auf die Straßen und Gassen der Stadt und führe die Armen, Verkrüppelten, Blinden und Lahmen
herein. […] Geh hinaus auf die Landstraßen und an die Zäune und nötige sie hereinzukommen, dass mein Haus voll werde.« Die
sich als die »Würdigen« – die Würdenträger für die Empfänge von lauter Wichtigtuern aller Zeiten – verstehen, erwiesen sich
als taub für seine Einladung. (Vergleiche Lukas 14, 21b – 23)
Die Evangelisten haben es vermocht, auf eine unnachahmliche, je eigene Weise das Erhabene und das Alltägliche ineinander |179| zu verweben, das Geschehen zu erklären und zugleich das Geheimnis zu belassen, im historisch Abgeschlossenen das geschichtlich
Offene zu zeigen, im Konkreten das zu Abstrahierende zu erahnen und zu entdecken.
Wer nur das Erhabene sieht, verliert Jesu Menschlichkeit und wird sakral. Wer nur das Alltägliche sieht, verliert seine Transzendenz
und wird banal. Wer keine Linien zu erkennen vermag, wird verwirrt sein. Aber wer aus dieser Überlieferung ein System machen
will, verliert seine Lebenswahrheit – und die ist voller Widersprüche und Brüche, ein Wechselspiel von Verborgenem und Offenbarem,
von Zweifel und Gewissheit, von Gericht und Gnade.
Du kommst diesen vier großen Zeugnissen der Weltgeschichte dann nahe, wenn du erspürst, was diese wunderlichen Berichte von
dir wollen, wozu sie dich herausfordern, ermutigen und ermuntern. Am ehesten begreifst du es, wenn du es Maria
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