Die Bibel für Eilige
begünstigt. Es sind Juden, die da brüllen: »Kreuzige! Kreuzige!«
Sie weigern sich, ihn freizugeben. Sie drohen gar dem Pilatus mit |167| dem Kaiser, falls er Jesus freiließe. Die Unterjochten drohen dem römischen Prokurator mit seinem eigenen Kaiser. So jedenfalls
konzipiert Johannes den Justizskandal und gibt so dem Judenhass »christliches« Futter.
Diese Passagen wurden von Dichtern bis in unsere Zeit nachgestaltet und gedeutet.
Wer die Bearbeitung des Johannes-Textes in Michail Bulgakows Roman »Der Meister und Margarita« und in Tschingis Aitmatows
Roman »Die Richtstatt« liest und wieder zum Ursprungstext zurückkommt, spürt, dass selbst solche meisterhaften Weiterführungen
nicht alle Konnotationen der sprachlich verdichteten Ursprungsform einfangen können.
Diese wiederum ist kaum ablösbar von einer geradezu genialen Übersetzung durch Martin Luther, der dem im jeweiligen Text dominierenden
Gestus sprachliche Form gab. Daher nimmt es nicht wunder, dass Bertolt Brecht in seiner Selbstbefragung unter dem Titel »Wo
ich gelernt habe« schreibt: bei »Luther in der Lyrik und im Pamphlet«. 4
Brecht entfaltet dies praktisch an einem Satz Lutherscher Übersetzung: »[…] die Sprache sollte ganz dem Gestus der sprechenden
Person folgen. Ich will ein Beispiel geben. Der Satz der Bibel ›Reiße das Auge aus, das dich ärgert‹ hat einen Gestus unterlegt,
den des Befehls. Aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da das ›das dich ärgert‹ eigentlich noch einen anderen
Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz (und Luther,
der dem Volk aufs Maul sah, formt ihn auch so): ›Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!‹. Man sieht wohl auf den ersten
Blick, dass diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist.« 5
Ich füge hinzu, dass Luther in seiner Übersetzung auch die Gedankenfolge umkehrt und mit dem »Auge, das dich |168| ärgert« beginnt und dann den Doppelpunkt anfügt: »Reiß es aus!«
Die ganze Sperrigkeit eines solchen Ansinnens, solchen Befehls wird auf diese Weise umso schärfer erkennbar.
Zu den mit großer Meisterschaft erzählten biblischen Geschichten gehören die von den Emmaus-Jüngern (Lukas 24), von Rembrandt
wie von Schmidt-Rottluff bildnerisch genial ›nachgezeichnet‹. Zwei über den Verlust ihres Lehrers und Freundes Verzweifelte
gehen von Jerusalem in das kleine Dorf Emmaus und unterhalten sich über all das, was sie erlebt haben. Sie versuchen, erzählend
zu verarbeiten, wessen Tod sie zu beklagen haben und was sie mit ihm erlebt hatten, der ans Kreuz genagelt wurde – ein für
sie endgültiges Aus. Es geht darin um ihren eigenen Lebensentwurf während ihres gemeinsamen Abschieds vom Ort des Geschehens
– von Jerusalem. Sie sind ohne Ziel losgegangen. Einfach weg! Und sie sind unterwegs, ohne zu wissen, wohin. Es gibt keinen
Rückweg. Nur weg! Und da gesellt sich ein Dritter zu ihnen – ein Unbekannter. Er hört zu. Er fragt und fragt nach. Sie erzählen
ihm. Und dann heißt es:
»Und sie kamen nahe an das Dorf, wo sie hingingen. Und er stellte sich, als wollte er weitergehen. Und sie nötigten ihn und
sprachen:
Bleibe bei uns; denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt.
Und er ging hinein, bei ihnen zu bleiben.
Und es geschah, da er mit ihnen zu Tisch saß, nahm er das Brot, dankte, brach’s und gab’s ihnen. Da wurden ihre Augen geöffnet,
und sie erkannten ihn. Und er verschwand vor ihnen. Und sie sprachen untereinander: Brannte nicht unser Herz in uns, als er
mit uns redete auf dem Wege und uns die Schrift öffnete?«
(Lukas 24, 28–32)
So übersetzt Luther. Diesen Text kann man auch so ins heutige Alltagsdeutsch übersetzen und ihm damit alles nehmen, was in
ihm mitschwingt!
|169| »Unterdessen gelangten sie in die Nähe des Dorfes, wo sie hinwollten. Jesus tat so, als ob er im Sinn habe, weiterzuwandern.
Aber sie baten ihn ganz dringend zu sich: Bleib doch bei uns! Die Sonne steht schon im Westen, und es geht auf den Abend zu.
So kehrte er bei ihnen ein und blieb. Als er mit ihnen beim Essen ausruhte, nahm er das Brot in die Hand, dankte Gott, zerbrach
es und gab es ihnen weiter. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten Jesus. Doch Jesus selbst wurde für sie unsichtbar.
Darauf sagten sie zueinander: Wurde uns nicht das Herz heiß, als er unterwegs zu uns redete und uns die Schriften
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