Die Bibel für Eilige
Einteilung
in Tag und Nacht, zur ersten Strukturierung der Schöpfung, zur ersten klaren Unterscheidung. Für dieses »Schaffen«, dieses
schöpferische Tun schlechthin, benutzt der Verfasser im Hebräischen nur dieses
eine
Wort, das für kein anderes Schaffen eingesetzt wird. Und »Wort« und »Ding« sind im Hebräischen dasselbe Wort.
Johannes knüpft an diesen »Anfang der Welt« an. Für ihn ist Jesus von Nazareth von Anfang an schon da, weil er bei Gott von
Ewigkeit her gewissermaßen beschlossene Sache ist. Der Sohn und der Vater sind eins. Jesus ist der, den Gott sendet, um in
der Finsternis Licht zu schaffen und
den
Menschen Licht zu bringen, die in der Finsternis sind. Er sieht in Jesus den Präexistenten, der nun gekommen ist. Ein erneutes
schöpferisches Wort Gottes: Das Wort wurde Mensch, der Ewige kommt ins Zeitliche, der Unsterbliche ins Sterbliche.
Genial hat dies Luther aus dem Griechischen so übersetzt:
Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind
durch dasselbe gemacht, und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist. In ihm war das Leben, und das Leben war das
Licht der Menschen. Und das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat’s nicht ergriffen.
Das war das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen. Er war in der Welt, und die Welt ist durch
ihn gemacht; aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn nicht auf.
Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns, und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des eingeborenen Sohnes
vom Vater, voller Gnade und Wahrheit.
(Johannes 1, 1–5, 9–11.14)
|162| Diese Passage aus dem Johannes-Evangelium ist meist nur noch in ihrer Verkürzung auf den ersten Satz »Im Anfang war das Wort«
bekannt – nämlich aus dem »Studierzimmer« des Faust bei Goethe.
Wir sehnen uns nach Offenbarung,
die nirgends würdiger und schöner brennt
als in dem Neuen Testament.
Mich drängt es, den Grundtext aufzuschlagen,
mit redlichem Gefühl einmal
das heilige Original
in mein geliebtes Deutsch zu übertragen.
Geschrieben steht: »Im Anfang war das Wort!«
Hier stock ich schon!
Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen…
Im Goethe’schen Verständnis liegen Wort und Tat auseinander. Im biblischen Verständnis sind Wort und Tat eins. Und es geht
im biblischen Text um das
Tatwort
Gottes, das schöpferische Wort Gottes, und um sein Wort an diese verlorene, in Finsternis störrisch verharrende Welt. Sie
sieht nicht, sie nimmt nicht an und nicht auf.
Was der Johannes-Prolog theologisch verdichtet, was Luther mit sprachlicher Meisterschaft übersetzt, das führt Walter Jens
in seiner Übersetzung so weiter, dass das Erratische des Textes hörbar wird. Bei Luther dominiert das Musikalische.
Am Anfang: ER.
Am Anfang: Das Wort.
Und Das Wort war bei Gott.
Und was Gott war, war ER.
|163| ER. Am Anfang bei Gott.
Durch Das Wort
Wurde alles.
Nichts, was ist,
ist ohne IHN.
Er: das Leben.
Er: Das Licht
für die Menschen.
Das Licht in der Nacht:
nicht überwältigt
von der Finsternis.
Das Wort
war die Wahrheit.
ER
war das Licht,
das jedermann leuchtet.
ER
war in der Welt,
die Welt ist durch IHN geworden,
aber sie erkannte IHN nicht.
ER
kam zu den Seinen
ins Eigene kam ER,
aber die Seinen nahmen IHN nicht auf.
Doch die IHN aufnahmen –
ihnen gab ER die Macht,
Kinder Gottes zu sein.
Ihnen, die nicht aus Blut und Gier und Lust,
sondern von Gott gezeugt sind.
ER aber, Das Wort,
ER wurde Fleisch:
Mensch unter Menschen
war ER bei uns.
Wir sahen IHN in seiner Herrlichkeit,
|164| dem Licht des einzigen Sohnes,
vom Vater her leuchtend,
erfüllt von Gnade und Wahrheit.«
Ein großer, ein tiefer, ein unergründlicher Text, eine »philo sophische Weihnachtsgeschichte«. Fürs Kindergemüt schrieb Lukas seine Geschichte »Es begab sich aber zu der Zeit […]« (Lukas 2,1–21)
Mit den so genannten Abschiedsreden hat Johannes ein zweites literarisches Meisterstück mit tiefer theologischer Substanz,
psychologischer Einfühlungsgabe und literarischer Kraft hinterlassen – einen Abschied als Vermächtnis und Trost:
»Liebe Kinder,
ich bin noch eine kleine Weile bei euch. Ihr werdet mich suchen. […] Wo ich hingehe, da könnt ihr nicht hinkommen.
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