Die Bibel für Eilige
soll euch geschehen,
da selbst die Haare gezählt sind,
auf eurem Haupt?
Nein, fürchtet euch nicht!
Wer sein Leben gewinnen will,
wird es verlieren,
doch wer es, um meinetwillen, verliert,
wird es gewinnen.
Wer euch aufnimmt,
nimmt mich auf.
Wer mich aufnimmt,
nimmt den auf,
der mich gesandt hat.
(Matthäus 10 nach der Übersetzung von Walter Jens)
Das sind Steilvorlagen: Wer euch aufnimmt, nimmt mich, den Menschensohn, auf. Und wer den Menschensohn aufnimmt, nimmt Gott
selbst auf. Gott bei den Menschen zu Gast! Gott in der Gestalt der Geringsten bei den Menschen zu Gast.
|175| Dieses Motiv wird eindringlich entfaltet in einem der drei so genannten Endzeitgleichnisse bei Matthäus im 25. Kapitel:
»Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen.
Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis
gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.«
Diese Redeweise ist unmissverständlich und direkt, einfach und hintergründig, einleuchtend und begreiflich, voller Zumutung
und voll Mut machendem Pathos.
Hier wechselt die Perspektive zwischen Nähe und Distanz zu Jesus und den Jüngern; sie sind ganz der Wirklichkeit ausgesetzt
und ihr zugleich ganz enthoben, erleben irdische Nähe und himmlische Ferne! Der Auferstandene weist auf den Gemarterten hin.
Einerseits singen Engel vom Himmel – und andererseits liegt da einer im Stall. Hier ein Wunderzeichen in den Wolken – und
dort Tränen, Todesschreie, der Jammer der Frau unter dem Kreuz. Unendlich oft abgebildet in der »Kreuzigungsgruppe« in unseren
Kirchen, aufgehängt in der Vierung.
Es bleibt bei allem, was ganz
offenbar
wird, etwas, das ganz verborgen bleibt. Ganz gewöhnliche Leute werden zu Zeugen des Außergewöhnlichen. Im ganz Alltäglichen
vollzieht sich das ganz Besondere.
Die Evangelisten beschreiben einen Mann, der zwischen den Jahren 1 und 33 lebte; aber sie berichten nur von etwa zwei Jahren
seines Lebens, zugleich antizipieren sie sein weiteres Geschick. Sie schildern hautnahe Berührungen, wie etwa Maria aus Magdala
ihn salbt, wie Judas ihn küsst, die Soldaten ihn peitschen und wie er gleichzeitig der ganz andere, der ganz ungewöhnliche,
der ganz außergewöhnliche |176| Mensch bleibt. Das dauernde Wechselspiel von »Leben mitten in der Welt« und »Entrückung«: Joseph ist der Vater, und er ist
doch nicht Vater. Maria ist eine normale Frau aus Nazareth. Und Jesus – ein normal Pubertierender – bleibt einfach zurück
in Jerusalem. Mit großer Sorge suchen die Eltern und finden ihn dann im Tempel sitzend, mitten unter den Lehrern, wie er ihnen
zuhört und sie fragt. Als Vater und Mutter ihm sagen, dass sie ihn mit Schmerzen gesucht hätten, antwortet er ihnen: »Ihr?
Mich gesucht? Wisst ihr denn nicht, dass ich im Hause meines Vaters sein muss?« Aber die Eltern verstanden nicht, was er sagte.
In ganz knapper Form: Nähe und Entrückung ins Bild gebracht, denn unmittelbar darauf geht er mit ihnen wieder nach Nazareth
und ist ihnen gehorsam. Vorerst. Dann geht er den ihm vorbestimmten Weg – als sich bei seiner Begegnung mit Johannes über
dem Jordan der Himmel auftut und eine Stimme hörbar wird: »Du bist mein lieber Sohn« (Mar kus 1,11).
Jesus zelebriert die Liturgien des Alltags, die Liturgien im Alltag. Und das Erhabene ist nicht das feierlich-steif Zelebrierte,
sondern das unmittelbar sinnlich Erlebte: wie aus Dankbarkeit im Teilen des Wenigen in einer aufeinander abgestimmten Gemeinschaft
von Menschen der Hunger gestillt wird, der Hunger nach Brot und der Hunger nach Leben! Voller Symbolik, voller geheimnisvoller
Sinnbezüge ist das ganz Alltägliche. Es verweist zugleich über den Tag, über den Einzelvorgang hinaus.
Bethlehem – das heißt »Haus des Brotes«. Da wird er geboren, ER, der Brot bricht und teilt und sagt: »Ich bin das Brot des
Lebens.« Der Alltag wird geheiligt – aber es geht um mehr als um die platte Oberfläche aller Dinge.
Diese Dialektik von Göttlichkeit und Menschlichkeit setzt sich in der gesamten theologischen, künstlerischen und literarischen
Wirkungsgeschichte fort. Der vollkommene |177| Mensch ist der geschändete Mensch. Diese Spannung wird in der Gotik dadurch vor Augen gestellt, dass der ganz und gar
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