Die Bibel für Eilige
Diesseits liegt.
Wo die Kirche nicht mehr »Gegenwelt« ist, sondern sich möglichst anschmiegt und einschmiegt, hat sie aufgehört, das Reich
Gottes als inspirierende Gegenwart einer unverfügbaren Zukunft anzusagen. Die Kirche, die auf das Reich Gottes wartet, kann
nicht zum Feiertagsschnörkel verkommen. Als religiöser Senfgeber ist sie wahrlich entbehrlich. Wer wohltemperiert, konturenlos,
proporzängstlich Volkskirche sein will, wird auf Dauer nicht zur Kirche des Volkes werden können.
Im Mittelpunkt der Botschaft Jesu steht nicht die Kirche, nicht die Gruppe, auch nicht das Seelenheil des Einzelnen, schon
gar nicht »der gute Mensch«, sondern das Reich Gottes, eine unsere Reiche inspirierende, kritisierende und illuminierende
Größe, in der das Große klein, das Unscheinbare groß, in der die Übersehenen ansehnlich und die Vergessenen beachtet werden.
Wer ängstlich auf Austrittsdrohungen reagiert oder eher |228| fragt, was die Mitglieder bei der Stange hält, aber nicht fragt, was vor Christus standhält, verliert seine Sache.
Die Hauptsache für die Kirche muss sein, dass Christus sich uns nicht entzieht. Die Hauptfrage der Kirche kann nicht sein,
wie viele sich der Institution entziehen.
Wer scheitert, der bete und fange wieder und wieder an. Wer das ganz Große erhofft, der hat auch offene Augen für das ganz
Kleine und sieht darin Zeichen für das Größere; aber er begnügt sich nicht, braucht sich nicht zu begnügen, speist nicht ab
und lässt sich nicht abspeisen. Wer das Reich Gottes betend erhofft, hofft für die Welt diesseits unseres Tuns und Trachtens,
aber er ist auch offen für das Umgreifende und das Ungreibare, wo Gott »alles in allem« sein wird.
Wir wissen nicht, was wir beten sollen
(Römer 8,26)
Es heißt nicht »wie« oder »warum« oder »wofür«, sondern »was«.
Was soll der Inhalt, was Gegenstand des Gebets sein?
Der Beistand wird angerufen, der Tröster, Heilige Geist, das Unverfügbare schlechthin, etwas uns auf wunderbare Weise Zukommendes.
Das hilft uns auf, dort, wo wir unsere Schwachheit, unser Am-Ende-Sein erkennen, nicht dort, wo wir vor Selbstbewusstsein
und äußerer Stärke strotzen. Beten findet seine Sprache aus dem Stammeln, dem Ringen um das richtige Wort, dem Flehen um Ant-Wort.
Gebet ist Annäherung an das, was unsagbar ist, aber ausgedrückt werden muss. Beten ist ein Reden, in dem ein Mensch nichts
mehr filtern muss, wo er alles sagen darf, alles rauslassen kann, auch alles Erschrecken, alles Selbsterschrecken, alles Drückende
und Bedrückende. Beten ist ein Reden ohne Angst, ist ein Loswerden dessen, was bedrohlich in uns |229| selbst steckt und was uns bedrohend umgibt. Hier kann einer alles sagen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Hier kann er sich
etwas zugestehen, was er einem anderen Menschen nicht zugestehen kann. Und er findet für dieses Zugestehen ein DU. Da kann
einer alles sagen, tabulos und angstfrei sich anvertrauen, im Wutschrei, im Verzweiflungsruf, ja auch in der Selbstverfluchtung,
bis er erlebt, dass er freier wird, bis er gar frei wird. Wo das Gebet verstummt, verliert der Mensch einen wesentlichen kathartischen
Ort, einen intimen Ort der Selbstreinigung und Selbstbefreiung: durch ein Sich-Anvertrauen an das, was er nicht selbst ist.
Das andere ist das Stammeln der Freude, das Verwundern und die Dankbarkeit, die tief innere Begeisterung über das, was mitten
im Alltags-Leben einfach nicht zu fassen ist, weil es zu schön ist. Beten, das nicht im Ritual erstarrt, gehört zur Intimsphäre
des Menschlichen, ins geheimste Innere, ins vertrauensvoll Verschwiegene, ins An-Vertraute im Zwiegespräch. Leben auf der
Suche nach dem DU, das sich dem ICH erschließt. In uns allen, die ihr Wohin suchen, steckt eine Sehnsucht; gibt es etwas,
was jenseits aller Zweifel einfach »da« ist, für uns da ist? Unser Gebet sagt mehr über unseren Glauben als alle formalisierten
Glaubenssätze. Unsicherheit bleibt, da wir nicht wissen, wie sich’s gebührt, zu beten.
Wir wissen, wie missbrauchbar gerade das Gebet geworden ist. Beten: das ist äußerster Ausdruck innerster Vorgänge, das ist
Intensität und Intimität in ihrer höchsten Stufe, auf wundervolle Weise erreicht. Beten ist Besinnung auf die innersten Kräfte,
die einem Menschen wunderbar zuwachsen. Läuterung geschieht durch ein Erzählen ohne Scheu; da kann einer sein Leben ohne Angst
ausbreiten, weil er auf Annahme hofft. Es geht
Weitere Kostenlose Bücher