Die Bibel für Eilige
betet, begnügt sich nicht mit den kleinen Dingen, sondern behält immer auch Größeres im Sinn, ohne die kleinen Dinge
verächtlich machen zu müssen. Er sieht das Neue und Wunderbare: dass aus einem Senfkorn ein Baum wird, dass ein Kind in der
Mitte steht, zum Lehrmeister eines Lebens aus Vertrauen wird. Er kann loslassen und weggeben, weil er das Eine gefunden hat,
das ihm wertvoll ist.
»Dein Reich komme.« Ich murmele, ich stottere, ich wispere, flehe, ich bitte, rufe diesen wunderbar einfachen, so öffnenden,
weitenden, atemgebenden Satz vor mich hin. Wohl hunderte Male gesprochen, entdecke ich ihn – im Zusammenhang |223| mit den anderen Bitten. So einfach-schön, so tief-wahr, so herzerweichend und markerschütternd.
Ja, »Unser Vater«, geheiligt dieser unaussprechliche und so nahe Name, »dein Wille geschehe« und »unser täglich Brot gib uns«
und »unsere Schuld vergib«.
Lauter Näherungsversuche, riskierte Sätze, unvollendete Gedanken – zwischen Stottern und Staunen, Hoffen und Bangen. Erschütterndes
und Erfreuliches, Widerständiges und Widersprüchliches, Gewohntes und Gewagtes.
Im Zentrum der Botschaft des Jesus aus Nazareth steht nicht das Seelenheil des Einzelnen, nicht das Heil eines Volkes, ja
nicht das Reich der Menschen, auch nicht die Besonderheit einer auserwählten Gruppe, sondern:
Das Reich Gottes und seine neue, andere Gerechtigkeit will den Menschen allen zugute kommen, zu ihnen kommen, ihnen die Augen
öffnen dafür, »dass es gegen allen Augenschein eine Perspektive gibt«.
Wer so betet, weitet seinen Blick auf die ganze Menschenwelt, bittet nicht um sein eigenes Reich, sondern um ein Reich, das
alle unsere Reiche überschreitet, überwölbt, übersteigt.
Wer so betet, kann keine rassistische, ideologische oder religiös-konfessionelle Überordnung der einen über die anderen wollen
oder zulassen.
Wer so betet, muss sich gegen nationalistische Verengung wenden.
Wer jedweder Form rassistischer oder nationalistischer Überhöhung nicht aktiv entgegentritt, soll nicht so beten!
Wir Ostdeutschen haben eine Zeit, eine Gesellschaft hinter uns, die ein Ziel, aber keine Freiheit hatte, und sind in einer
Welt angekommen, die Freiheit hat, aber ihres Ziels unsicher, ja ungewiss ist. Wenn es kein Ziel mehr gibt, gibt es auch keine
Maßstäbe. Die Freiheit ohne Ziel kann zur systematischen |224| Selbstzerrüttung werden, wo Menschen vergessen, WOFÜR sie da sind und WOHIN alles führen soll.
Das Reich Gottes ist ein Raum, ein grenzenloser, grenzenübergreifender Raum, etwas, auf das wir zugehen und das auf uns zukommt,
das uns zukommt.
» Dein Reich komme«
– das kann ein Notschrei, ein Bittruf, ein Hoffnungsseufzer, eine Routineformel, eine Widerstandsparole, eine Gegenwelterklärung
und eine Einverständniskundgabe sein. Es kann tödlich formalisiert sein, und es kann aus tiefstem Herzen kommen. Missbrauchbar
ist es wie alle anderen Worte, wie jede Sprachform, die zur Formel wird.
Jedenfalls ist es ein einfachster Satz für eine einfachste Lebenshaltung. Es gibt (noch) Hoffnung! Es gibt (noch) Offenheit!
Es gibt noch anderes als das, was es schon gibt. Es gibt etwas, auf das wir uns richten und das uns ausrichtet und das uns
aufrichtet, aufsehen lässt, selbst nach abgrundtiefen Niederlagen oder unverschmerzbaren Verlusten.
Dies ist in einer Welt zu sagen, in der alles zerbröselt – die Ideen und die Institutionen, die Natur und die Kultur –, wo
aus dem Osten kein Licht mehr strahlt und wo im Westen die Sonne im Dunst unserer Konsumabfälle untergeht, wo das »Ende der
Geschichte« beschworen wird und alle, die von einer Utopie reden, lächerlich gemacht werden.
Um das Reich Gottes bitten wir und haben gerade mehrere Verwechselungen hinter uns. Deutsche erjubelten, erstritten, erkämpften,
erschlichen das »Reich der (überlege nen ) Deutschen«, weil unseren Vätern Deutschland so sehr »über alles« ging, dass es furchtbar über alle kam, bis es über uns
kam und wir Deutschen auf den Ruinen saßen, in die wir uns
vor
den anderen gebombt hatten.
Die nächste Verwechselung, eine hoch-ideologische Transformation, haben wir Ostdeutschen – mit dem gesamten Ostblock – erst
13 Jahre hinter uns: Das »Reich des befreiten Menschen«, in Gestalt der wohlmeinenden »Dikta tur |225| des Proletariats«, Erfüllung versprechend für die Menschheitsträume alle, ja Beginn der Menschheitsgeschichte überhaupt, baute
um
sich
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