Die Bibel Verstehen
seinen hellen und dunklen Seiten geschaffen hat, wird er zum Segen für sein Volk, zum Stammvater vieler Menschen. Nun kann er seinem Bruder Esau begegnen und ihn umarmen. Aber er vertraut nun nicht mehr auf die eigene Kraft, sondern auf Gottes Gnade. Er hinkt. Er wird langsamer, um so Gottes Handeln an sich wahrzunehmen. – Eine zutiefst spirituelle Erfahrung, auch heute.
Jakob zeigt uns – spätestens in der Lebensmitte –, dass wir allein mit unserer Schlauheit und Gerissenheit, allein unserem Verstand vertrauend das Leben nicht meistern werden. Wir müssen uns dem eigenen Schatten stellen. Das ist schmerzlich. Der Kampf zeichnet uns. Wir tragen die Wunde mit uns. Aber wir werden trotzdem zum Segen für andere. Gerade in unserem Schatten begegnen wir Gott, dem Gott, der uns befähigt, uns nun auch mit den Menschen zu versöhnen, die uns auf den ersten Augenblick feindlich erscheinen, weil sie uns an die eigenen Schattenseiten erinnern. So zeigt uns die Jakobsgeschichte, wie Versöhnung mit uns selbst und miteinander möglich ist.
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JOSEF UND SEINE BRÜDER
Josef ist der jüngste Sohn Jakobs und zugleich sein Lieblingssohn. Das macht seine Brüder eifersüchtig. Sie werfen ihn in die Zisterne und verkaufen ihn an Kaufleute. So kommt der, der von der Eifersucht und vom Zorn seiner Brüder scheinbar vernichtet wird, nach Ägypten und eröffnet dort einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte seines Volkes. Die Josefsgeschichte (Gen 37,1–50,26) zeigt uns, dass Gott alles Unheil in Heil zu verwandeln vermag. So ist sie eine Hoffnungsgeschichte, dass auch unser Scheitern immer wieder zu einem Neuanfang führen wird, dass wir aus der dunklen Zisterne ans Licht und aus dem Gefängnis unserer Angst in die Freiheit und Weite Gottes gelangen und zum Segen für andere werden.
Und Josef? Er befolgt auch in der Fremde die Weisungen seines Gottes. Dies führt ihn ins Gefängnis. Die Frau seines Herrn wollte mit ihm schlafen. Als er sich wehrt, verklagt sie ihn. Doch Gott wendet das Unheil der Gefangenschaft zum Guten: Josef deutet seinen Mitgefangenen ihre Träume. Das führt dazu, dass er auch dem ägyptischen Pharao seinen Traum deutet, den seine eigenen Traumdeuter nicht zu entschlüsseln vermochten. Und Pharao macht ihn zum Herrscher über Ägypten. Josef baut dann große Vorratskammern, um den Überschussan Getreide aus den sieben fetten Erntejahren zu sammeln. Als in den sieben dürren Jahren überall Hungersnot herrscht, wird Josef zum Retter der Menschen.
Auch seine Brüder kommen nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Es ist eine wunderschöne Geschichte, als Josef seinen Brüdern begegnet und ihnen einige Proben zumutet, um sich schließlich weinend zu erkennen zu geben: «Ich bin Josef, euer Bruder … Beunruhigt euch jetzt aber nicht … darüber, dass ihr mich hierher verkauft habt. Denn um euch das Leben zu erhalten, hat Gott mich vorausgesandt» (Gen 45,4f).
Darin wird letztlich unser aller Berufung sichtbar: Wir sind berufen, Leben zu erhalten, dem Leben zu dienen. Selbst wenn wir uns wie weggeworfen und gefangen fühlen, haben wir von Gott her doch den Auftrag, dem Leben zu dienen. Durch jeden von uns kann Leben erblühen. Die Josefsgeschichte will unser Vertrauen vertiefen, dass Gott alles Unheil zum Guten wenden und unsere Gefangenschaft in neues Leben wandeln wird.
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MOSE
Der Auszug der Israeliten aus dem Sklavenhaus Ägypten war für das Volk das große Erlebnis von Erlösung und Befreiung. Es war die Großtat Gottes an dem kleinen Volk, an das sich jeder fromme Israelit am Vorabend jedes Sabbats erinnerte. Die Befreiung aus Ägypten wurde schon in der Geschichte des alten Israels als Bild für jede Befreiung gesehen. Es ist die Befreiung von Abhängigkeit und Anhänglichkeit an die Wohltaten dieser Welt. Dem Volk Israel ging es in Ägypten äußerlich ganz gut. Es hatte genug zu essen. Aber es war nicht frei. Es konnte nicht so leben, wie es ihm entsprach. Fronvögte standen über dem Volk und trieben es zu immer größerer Leistung an.
Da schickt Gott seinem Volk einen Retter: Mose. Schon von Geburt an zeigt Gott, dass er mit diesem Kind, das er – ausgesetzt – aus dem Wasser rettet, mit ihm Großes vorhat. Doch zunächst scheitert Mose. Als er einen Ägypter erschlägt, muss er in die Fremde fliehen. Dort sieht er im Dornbusch das göttliche Feuer brennen. Der Dornbusch ist Bild seines Scheiterns, seiner Unbrauchbarkeit. Doch gerade in diesem vertrockneten und übersehenen
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