Die Bibel Verstehen
ist gut, sich die Szenen, die Lukas uns schildert, mit allen Sinnen vorzustellen und sich in sie hineinzuversetzen. Dann geschieht auch bei uns, was die Menschen in der Begegnung mit Jesus erlebt haben.
Lukas schildert – wie kein anderer Evangelist – Jesus als den betenden Menschen. Das Gebet ist der Weg, auf dem wir Jesus am nächsten kommen. Daher sollen wir das Lukasevangelium als betende Menschen lesen. Wir sollen uns wie Jesus immer wieder ins Gebet zurückziehen, damit wir in der Zwiesprache mit dem Vater seine Liebe verstehen, die in Jesus Christus für uns offenbar geworden ist. Im Gebet erkennen wir, wer Jesus ist. Und im Gebet haben wir teil an seiner Haltung Gott gegenüber. So lädt uns Lukas ein, durch das meditierendeund betende Lesen seines Evangeliums zu frommen und gerechten Menschen zu werden, zu Menschen, die das Idealbild der griechischen Philosophie vom wahren Menschen verwirklichen, die aber zugleich die Liebe und Zärtlichkeit und Klarheit Jesu widerspiegeln, die Jesus auszeichnen.
W
enn ihr betet, so sprecht:
Vater, dein Name werde geheiligt.
Dein Reich komme.
Gib uns täglich unser notwendiges Brot.
Und vergib uns unsere Sünden; denn auch wir vergeben jedem, der uns schuldet.
Und führe uns nicht in Versuchung.
LUKAS 11,2–4
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DAS EVANGELIUM NACH JOHANNES
Das Johannesevangelium unterscheidet sich wesentlich von den drei anderen, die von den Exegeten die «Synoptiker» genannt werden (vom griechischen Wort Synopse; das heißt: «Zusammenschau» und meint, dass die drei ersten Evangelien über weite Strecken parallel gelesen werden können). Das vierte Evangelium erzählt sehr wenig; es zeigt uns Jesus im Dialog mit Menschen, die ihn nicht verstehen. 80 Prozent des Johannesevangeliums fallen auf Reden und Dialoge. Nur 20 Prozent sind Erzählstoff. Und Jesus spricht eine andere Sprache als bei den Synoptikern. Offensichtlich hat der Autor des Johannesevangeliums Jesu Worte und Jesu Handeln auf seine persönliche Weise meditiert. Er lässt den in die Herrlichkeit Gottes erhöhten Jesus heute zu uns sprechen.
Die Tradition glaubt, Johannes, der Bruder des Jakobus, sei der Autor des vierten Evangeliums. Heute meinen die meisten Exegeten, der namenlose Lieblingsjünger sei der Autor oder zumindest der Initiator des Evangeliums, das erst am Ausgang des ersten Jahrhunderts entstanden ist. Der Lieblingsjünger spricht die Worte Jesu hinein in die Situation seiner Gemeinde, die von Spaltung bedrohtwar. Und er spricht sie hinein in die spirituelle Situation am Ende des ersten Jahrhunderts. Diese Zeit war geprägt von der sogenannten Gnosis. Das war eine breite Bewegung innerhalb und außerhalb des Christentums. Ihr ging es um Erleuchtung, um Erkenntnis der Wahrheit. Diese Bewegung ist vergleichbar mit der New-Age-Bewegung, der es ja auch um Bewusstseinserweiterung und spirituelle Erfahrung geht. Das Johannesevangelium greift die wichtigsten Begriffe der Gnosis auf und deutet sie auf seine Weise um: «Licht, Leben, Weg, Wahrheit, Liebe». In dem konkreten Menschen Jesus leuchtet Gottes Licht auf. Dieser Mensch ist für uns Leben. Er ist der Weg, die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6). Er ist die menschgewordene Liebe Gottes. In ihm erweist uns Gott seine Liebe bis zur Vollendung.
Johannes beginnt das Evangelium mit dem Prolog, den Theologen und Philosophen aller Zeiten meditiert und ausgelegt haben. Es sind wunderbare und zugleich seltsame Worte, mit denen Johannes das Geheimnis Jesu zum Ausdruck bringt. Im Prolog klingen schon die wichtigsten Worte an: Jesus ist das Wort Gottes, das Fleisch wird. Er ist Licht und Leben. Leben ist wohl das häufigste Wort im Johannesevangelium. Es kommt 52-mal vor. Jesus erfüllt unsere Sehnsucht nach wahrem Leben. Der Prolog gipfelt in dem Wort: «Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, eine Herrlichkeit,wie sie der einzige Sohn vom Vater hat, voll Gnade und Wahrheit» (Joh 1,14). In dem Menschen, im konkreten Fleisch dieses geschichtlichen Menschen Jesus, schauen wir Gottes Herrlichkeit. Es ist eine Herrlichkeit voller Gnade, voller Zärtlichkeit und Liebe. Und darin leuchtet die Wahrheit auf. Das griechische Wort aletheia (Wahrheit) meint, dass der Schleier weggezogen wird und wir auf den Grund schauen. In diesem Menschen Jesus schauen wir das Geheimnis Gottes und das Geheimnis der ganzen Welt.
Johannes erzählt zwar immer Geschehenes. Die Exegeten sagen uns, dass er über
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