Die Bibliothek der Schatten Roman
zornig.
Katherina sah ihn erschrocken an, fasste sich aber gleich wieder und verschwand aus seinem Blickfeld.
Erleichtert ließ er das Buch los, das mit einem Knall auf den Boden fiel. Mit einem Lächeln auf den Lippen sackte er in sich zusammen und schloss die Augen. Um ihn herum herrschte Chaos. Getrampel und aufgeregtes Stimmengewirr. Ein Jammern, das von Paw zu kommen schien. Jon hoffte, dass er sich nicht irrte.
Der Geruch, der im Raum lag, erinnerte ihn an seine Aktivierung im Libri di Luca. Es war das gleiche elektrische Surren, der gleiche Gestank nach verbranntem Holz und Kunststoff, begleitet von dem Metallgeschmack in seinem Mund.
Auch seine Erschöpfung war vergleichbar, er war unfähig, sich zu bewegen, wenn er sich nicht angestrengt darauf konzentrierte.
Dabei war der Verlauf der Lesung komplett anders gewesen, als im Libri di Luca. Bei der Aktivierung war er völlig weggetreten, wie bei einem Blackout, so dass er nichts von dem mitbekommen hatte, was um ihn herum passiert war.
Das Kräftemessen in der Zelle war ganz anders gewesen.
Anfänglich hatte er nichts Besonderes gemerkt. Da er das Buch nur mit dem ausgestreckten Arm halten konnte, war der Leseabstand etwas größer gewesen als normal, so dass er die Augen ein wenig zusammenkneifen musste. Die Kopfschmerzen nach Paws Schlag waren auch nicht gerade zuträglich, und so hatte er sich mühsam durch die ersten Seiten gestammelt. Mit der Zeit war ihm das Lesen jedoch leichter gefallen, es war flüssiger und zusammenhängender geworden, bis sich endlich das inzwischen fast schon vertraute Gefühl von Kontrolle eingestellt hatte.
Jon hatte vier oder fünf Seiten aus Frankenstein gelesen, ohne größere Ausschläge zu provozieren, er wollte erst seinen Rhythmus finden, der es ihm erlaubte, sich im Raum, in der Geschichte und dem Energiepotenzial zu orientieren. Er wirtschaftete mit seinen Kräften wie ein Läufer vor dem entscheidenden Endspurt und spannte seine Fähigkeiten wie Muskeln vor dem Absprung.
Als er beim Abschnitt über den Aufstand der Landbevölkerung und die Verzweiflung des Ungeheuers angelangt war, stürzte Jon sich kopfüber in den Text. Die Bilder sprangen ihm in klaren, grellen Farben und mit scharfen Konturen entgegen. Aber die Umgebung um ihn herum verschwand nicht, wie er es gewohnt war. Wie bei den Überblendungen eines Films ging alles fließend ineinander über. Die Gegenstände in seiner Nähe wurden zum Inventar der Geschichte. So verwandelte sich der Stuhl in die Pritsche, auf der Dr. Frankenstein sein
Ungeheuer konstruierte, und aus den Gestalten, die ihn durch die Scheibe beobachteten, wurden die schwankenden Bäume vor den Fenstern des Schlosses.
Jon verstärkte nach und nach die Effekte, so dass die Bilder einen grellen, eindringlichen Schimmer bekamen, als wären sie überbelichtet. Die Emotionen waren so stark, dass sie regelrecht greifbar wurden. Er verstärkte das Grauen in den Szenen, die Hoffnungslosigkeit des Ungeheuers und den unmenschlichen Blutdurst der Volksmasse. Raum und Zeit traten ganz in den Hintergrund, bis nur noch die nackten Gefühle in den Gesichtern der Figuren kaleidoskopisch und kräftig pulsierend durch das Licht drangen. Er erhöhte die Frequenz noch weiter, bis die Bilder wie ein Wirbelwind vorbeischwirrten. Alsbald verzerrten sich die Gesichter und Szenen und wurden in die immer schneller werdende Spirale gesogen. Die Farben lösten sich auf, bis die Figuren wie auf einem Negativ erschienen. Die jetzt schwarzen Zähne in dem verzerrten Grinsen der Personen brannten Löcher in die Bilder, und weiß leuchtende Pupillen hinterließen Spuren auf Jons Netzhaut. Mit einer letzten Kraftanstrengung stürzte er sich in den Zyklon der Bilder.
Zu seiner Überraschung war es dort ganz dunkel und still.
»Glückwunsch, Campelli.«
Remers Stimme holte Jon zurück in die Wirklichkeit der Zelle. Langsam öffnete er die Augen und sah wenige Meter vor sich Remer stehen. Er hatte die Hände in die Seiten gestemmt und blutete aus mehreren kleinen Wunden am Kopf, dessen eine Seite rußverschmiert war.
»Sie haben den absoluten Rekord aufgestellt«, fuhr er fort und sah sich im Raum um. »Nicht ohne Unkosten, muss ich sagen, aber äußerst überzeugend.«
»Katherina?«, stammelte Jon krächzend.
»Keine Sorge, die kommt nicht weit«, antwortete Remer.
Jon lächelte. Das musste heißen, dass sie es zumindest aus
dem Gebäude heraus geschafft hatte. Schlagartig verlor seine eigene Situation an
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