Die Bibliothek der Schatten Roman
konnte.«
Kortmann sah Paw an.
»Und du?«
»Ich kam erst später dazu«, antwortete Paw. »Ich habe auch noch ein Leben neben den Büchern.«
Kortmann betrachtete seine Hände.
»Ich habe erst gestern mit Iversen gesprochen«, begann er. »Wir sprachen über Sie, Jon. Sie könnten eine zentrale Figur für die Gesellschaft werden, und nach den aktuellen Ereignissen brauchen wir Sie dringender denn je.« Er hob den Blick und sah Jon mit dunklen, besorgten Augen an.
»In letzter Zeit haben sich in unseren Kreisen beunruhigende Dinge ereignet. Das Libri di Luca ist nicht das einzige Antiquariat, das Angriffen ausgesetzt war. Letzten Monat ist eine Buchhandlung in Valby abgebrannt, und mehrere unserer Kontaktpersonen in den städtischen Bibliotheken wurden belästigt oder ohne Vorwarnung entlassen. Und dann ist da natürlich die äußerst bedauernswerte Episode mit Ihrem Vater.«
Jon stutzte und sah den Mann im Rollstuhl fragend an.
»Was hat Lucas Tod mit dem Feuer zu tun?«
»Der Tod Ihres Vaters war nur der Anfang.«
»Moment mal.« Jon hob abwehrend die Hände. »Luca ist an Herzversagen gestorben.«
»Korrekt«, stimmte Kortmann ihm zu. »Nur dass seinem Herzen nichts fehlte.«
Jon musterte den Mann. Kortmanns Augen wichen Jons Blick nicht aus, und sein Gesicht strahlte Ernst und Nachsicht aus.
»Was genau versuchen Sie mir zu sagen, Kortmann?«, fragte Jon.
»Dass Ihr Vater aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet wurde.«
Jons Körper wurde plötzlich ganz schwer, und es war, als würde er im Sessel versinken, als wäre alle Luft aus der Polsterung entwichen. Es gelang ihm nicht, Kortmann zu fixieren, stattdessen ließ er den Blick schweifen, während die Worte langsam in sein Bewusstsein vordrangen.
»Wenn ich Iversen richtig verstanden habe«, fuhr Kortmann nach einer kurzen Pause fort, »hat er Ihnen in einer kleinen Séance im Libri di Luca demonstriert, welche Fähigkeiten ein Empfänger hat.«
Jon nickte geistesabwesend.
»Haben Sie bemerkt, dass Sie nicht mehr die volle Kontrolle über Ihren Körper hatten? Sie waren außer Stande, die Lesung, Ihre Augen, Ihre Atmung zu steuern, und vielleicht haben Sie auch die Veränderung Ihres Herzrhythmus bemerkt. Stellen Sie sich diesen Einfluss zehn- oder hundertfach verstärkt vor. Ihr Vater hatte keine Chance.«
Jon versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, was während der Lesung von Fahrenheit 451 im Keller geschehen war. Er erinnerte sich an intensive Bilder und eine deutliche Beeinflussung der Geschichte. Aber hatte er während der ganzen Zeit Kontrolle über seinen Körper gehabt oder hatte Katherina auch darauf Einfluss genommen?
»Wir haben keine Beweise«, sagte Kortmann bedauernd. »Es gibt keine Spuren von Drogen, keine Wunden oder andere Anzeichen. Die Symptome führen zu einer Überlastung des Herzmuskels und schließlich zum Herzstillstand.«
Das Gefühl der Ohnmacht, das Jon auch bei der Demonstration gespürt hatte, war wieder da. Er erinnerte sich an seinen beschleunigten Puls, an die Wärme seiner Hände und die Schweißperlen auf der Stirn. Wie ein Passagier in seinem eigenen Körper, machtlos und nicht in der Lage, ihn zu lenken. In diesem Zustand hätte er geradewegs auf einen Abgrund zulaufen können. Jon konnte sich gut vorstellen, dass man diese Kraft auch anders nutzen konnte als bloß für die Akzentuierung
eines Leseerlebnisses. Aber wer würde in seinem Machtmissbrauch so weit gehen, einen Mord zu begehen?
»Wollen Sie Katherina deshalb nicht in Ihre Wohnung lassen?«, fragte Jon.
»Das Besuchsverbot gilt nicht nur für die betreffende Empfängerin«, antwortete Kortmann. »Kein einziger Empfänger hat mehr Zutritt zu diesen Räumen.«
»Nicht mehr ?«
»Entschuldigen Sie, ich vergesse immer, dass Sie nichts über die Bibliophile Gesellschaft und ihre Geschichte wissen. Als Lucas Sohn sollten Sie darüber informiert sein.«
»Lassen Sie meinen Stammbaum für einen Augenblick außer Acht«, sagte Jon. »Erzählen Sie.«
Kortmann nickte und räusperte sich, ehe er den Faden wieder aufnahm.
»Bis vor 20 Jahren war die Gesellschaft ein Sammelbecken für Sender und Empfänger, was in hohem Maße ein Verdienst Ihres Vaters und Großvaters war. Sie haben die beiden Gruppen so lange zusammengehalten, wie es ging. Aber dann gab es plötzlich eine Reihe von Vorfällen, die große Ähnlichkeit mit den Ereignissen von heute haben. Manchen Lettori wurde ohne Nennung von Gründen der Arbeitsplatz gekündigt, oder sie wurden
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