Die Bibliothek der Schatten Roman
Lee zuckerkrank. Außerdem haben sie einen Brief gefunden, der von Lee unterschrieben war, wie sein Kollege behauptete.«
»Dann war es also wirklich Selbstmord?«, erkundigte sich Jon.
»Es deutet alles darauf hin, dass er sich eine Überdosis Insulin gespritzt hat«, erklärte Kortmann. »Die Polizei geht jedenfalls davon aus und hat die Akte bereits geschlossen.«
»Aber Sie sind anderer Meinung?«
Kortmann sah einen Moment zu Katherina hinüber. In seinem Blick lag zum ersten Mal keine Anklage, er schien eher ihre Reaktion zu studieren.
»Ich wäre gerne sicher«, sagte er. »In diesen Zeiten ist das Zusammenfallen solcher Ereignisse höchst verdächtig, wir müssen also alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Zum einen, um nichts zu übersehen, und zum anderen, um nicht in Panik zu geraten. Beides kann uns zerstören.«
»Aber wenn die Polizei nichts finden konnte …«, begann Jon.
»Die Polizei hat gefunden, wonach sie gesucht hat«, unterbrach ihn Kortmann. »Sie haben nach einem Selbstmord gesucht und einen gefunden. Er passte ins Profil: jung, Eigenbrötler ohne Beziehung, Familie oder soziales Netzwerk. Sogar sein Kollege konnte bestätigen, dass Lee sich manchmal paranoid aufführte.«
»Also, wonach suchen wir dann?«, wollte Jon wissen.
»Nach zwei Sachen«, antwortete Kortmann. »Zum einen suchen wir nach allem, was darauf hindeuten könnte, dass es
kein Selbstmord war. Zum anderen müssen wir wissen, was Lee im Internet gefunden hat, wenn er denn überhaupt etwas gefunden hat.«
»Sollen wir in die Wohnung des Toten einbrechen oder haben Sie einen Schlüssel?«, fragte Katherina, ohne ihren Sarkasmus zu verbergen.
»Den habe ich in der Tat«, antwortete Kortmann ruhig und zog einen Umschlag aus der Innentasche seines Mantels. »Fragen Sie mich nicht, wo ich ihn herhabe.« Er reichte Jon das Kuvert. »Ich rufe Sie an, wenn Sie drin sind.«
Jon und Katherina stiegen aus und kamen auf dem Weg zum Haus am Fahrer vorbei. Er nickte ihnen dankbar zu und rieb sich fröstelnd die Unterarme, während er zurück zum Wagen hastete.
Die Wohnung befand sich im dritten Stock in einem langen Flur, an dem noch neun weitere Wohnungen lagen. Hinter den zellenähnlichen Türen waren Fernseher, Kindergeschrei und Streitereien zu hören. Katherina empfing die Untertitel von Filmen, sonst wurde hier nichts gelesen, und die Bilder waren, wie immer bei diesen Texten, schwach und diffus.
Vor Lees Tür fischte Jon den Schlüssel aus dem Umschlag und schloss auf. Sie schalteten das Licht nicht gleich an, sondern machten erst die Tür zu. Eine Reispapierlampe unter der Decke beleuchtete einen kleinen Eingangsbereich mit einer engen Küche auf der einen und einer Toilette auf der anderen Seite. Geradeaus lag der einzige Wohnraum, ein etwa 30 Quadratmeter großes Zimmer, dessen hintere Wand komplett aus Fenstern bestand.
Obgleich sie noch immer den Fernseher aus der Nachbarwohnung hörten, kam es Katherina vor, als wären sie in ein Vakuum getreten. Es war weniger als 24 Stunden her, dass Lee hier gestorben war, doch die Räume wirkten verlassen und unpersönlich.
Jon schaltete alle Lampen ein. Vorsichtig gingen sie durch
die Küche und vermieden jeden unnötigen Lärm. Hier war deutlich zu erkennen, dass sie sich in einer Junggesellenwohnung befanden. Ungespültes Geschirr und Fastfoodverpackungen bedeckten beinahe den gesamten Küchentisch, und auf dem Boden lagen leere Flaschen und zum Platzen mit Leergut gefüllte Plastiktüten. Die Toilette war seit Monaten nicht geputzt worden, und Katherina blieb nur so lange im Bad, um zu konstatieren, dass in dem kleinen Spiegelschrank bloß Rasierzeug, Zahnbürste und ein paar weitere Toilettenartikel waren.
Das Wohnzimmer war eindeutig der Raum, in dem Lee seine Zeit verbracht hatte. Zwei Wände waren mit Bücherregalen zugestellt, und an der dritten standen ein Schrank und ein Bett, oder besser gesagt, der Rahmen eines Bettes, denn die Matratze war entfernt worden. Vor dem Fenster stand ein breiter Schreibtisch, auf dem zwei schwarze Computerbildschirme und ein Drucker standen. Auf der Fensterbank lagen Bücher und Stapel von Ausdrucken, die umzustürzen drohten, wenn man sich ihnen näherte.
Katherina blieb einen Moment in der Tür stehen und starrte auf das leere Bettgestell, bevor sie das Zimmer betrat. Sie hatte nicht das Gefühl, willkommen zu sein, wahrscheinlich nicht einmal, wenn Lee noch am Leben gewesen wäre. Es schien eine unsichtbare Barriere zu geben, die
Weitere Kostenlose Bücher