Die Bibliothek des Zaren
werde reden und gleichzeitig Eure Zähne machen – das hilft meinem Verstand, sich bei der Darstellung an die richtige Reihenfolge zu halten. Nur eines will ich zu Beginn sagen: Es geht um den größten Schatz, den die Menschheit kennt.«
Diese Vorwarnung hatte der weise Apotheker zweifellos vorausgeschickt, damit der Hauptmann dem Erzähler mit der gebührenden Aufmerksamkeit zuhörte.
Die List zog – Cornelius beugte sich mit dem ganzen Körper vor.
***
»Der größte Schatz?«, fragte von Dorn nicht nur im Flüsterton, sondern auch plötzlich etwas heiser geworden. »Geht es um Gold?«
Walser lachte, aber nicht fröhlich, sondern eher bitter.
»Seid Ihr der Meinung, Herr Hauptmann, es gäbe auf der Welt nichts Kostbareres als Gold?«
»Nein, es gibt Dinge, die noch kostbarer sind: Edelsteine zum Beispiel. Diamanten, Saphire, Smaragde.«
»Ja«, sagte der Apotheker, während er knöcherne Spreizen nahm und viel sagend schmunzelte, »da gibt es Edelsteine und Gold, so viel Ihr wünscht.«
»Wirklich, so viel ich wünsche?«, fragte Cornelius verdutzt nach.
»Jawohl. Wie viel braucht Ihr, um ganz zufrieden zu sein – ein Pud, hundert Pud, tausend?«
Von Dorns Brauen waren drohend zusammengezogen. Herr Walser beliebt wohl zu scherzen? Als der Apotheker sah, wie sich das Gesicht des Musketiers verändert hatte, brach er in ein leises Lachen aus, das nicht spöttisch, sondern eher erregt war.
»Dreht nicht den Kopf, mein junger Freund, Ihr stört mich. Bleibt schön sitzen und hört geduldig zu, ich muss weit ausholen.«
Und er steckte die knöchernen Spreizen in Cornelius’ Mund, wodurch der Dialog sich auf natürliche Weise in einen Monolog verwandelte.
»Vor acht Jahren trat ich eine Professur für Pharmakologie und Kräuterkunde an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg an. Sicher habt Ihr von dieser renommierten Lehranstalt schon gehört.«
Von Dorn brummelte etwas Zustimmendes; in Heidelberg hatte sein Bruder Andreas Theologie studiert.
»Wackelt nicht mit dem Kopf, bleibt ruhig sitzen . . . Die Bedingung für meinen Vertragsabschluss mit dem Rektorat war, dass es mir in der Zeit, in der ich nicht Vorlesungen hielt oder im Labor Versuche anstellte, gestattet war, mich nach Belieben in den Universitätsarchiven umzusehen. Damals war ich ein Anhänger der Methode des Galenus, studierte die heilenden Eigenschaften des Antimoniums und hoffte, nützliche Informationen über diese wunderbare Substanz in den Traktaten und Aufzeichnungen berühmter Alchemisten der vergangenen Jahrhunderte zu finden. Dabei stieß ich auf eine Vielzahl hochinteressanter Dokumente, die keine Beziehung zu dem Gegenstand meines wissenschaftlichen Interesses hatten, aber ein Mensch mit einem wissbegierigen Verstand hat immer die Augen weit geöffnet, denn man weiß ja nie, wo das segensreiche Licht aufleuchtet. Und eines Tages fielen mir die Notizen eines Pastors in die Hände, eines gewissen Doktor Saventus, eines Mannes großer Gelehrsamkeit und Kenners der griechischen und altgriechischen Weisheit. Er lebte vor hundert Jahren.«
Von Dorn brüllte auf: Es tat weh.
»Moment, hier im Zahnfleisch ist ein kleiner Zahnsplitter hängen geblieben. So! Jetzt wird es nicht mehr wehtun . . . Dieser Theologe diente in Livland als Gemeindepfarrer und geriet während des Krieges in moskowitische Gefangenschaft. Nach vielen Abenteuern, die ich Euch jetzt nicht erzählen werde, fand Saventus sich im Kreml wieder, wo er dem Zaren Iwan unter die Augen kam, also dem Zaren, der später der Schreckliche genannt wurde. Der Pastor schreibt, der Zar sei ihm geneigt gewesen und habe gesagt, dass er schon lange einen gelehrten Mann suche, der ihm dabei behilflich sei, die alte Bibliothek, die von seinen Vorfahren auf ihn gekommen war, zu ordnen. Und weiter referiert der Autor dieser Notizen die Geschichte dieser Büchersammlung, die er Liberey nennt. Eine Bibliothek des Zaren . . . Spült den Mund mit Wodka aus, aber ich flehe Euch an, schluckt ihn nicht runter.«
Cornelius nutzte es aus, dass er endlich wieder sprechen konnte, und rief ungeduldig aus:
»Herr Walser, hört zum Teufel mit Eurer Bibliothek auf! Erzählt lieber von den Schätzen!«
»Die Bibliothek ist doch der Schatz!«
Den Hauptmann überkam eine tiefe Enttäuschung. Er wusste ja, dass dieser Bücherwurm irgendeinen langweiligen Quatsch im Auge hatte. Na, da hatte er den Richtigen gefunden, um ihm ernsthaft zuzuhören; hatte seine Ohren schön weit
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