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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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    Walser lachte wieder.
    »Ihr habt eine erstaunlich ausdrucksvolle Mimik, Herr von Dorn. Ich mache jetzt einen Wachsabdruck. Möglichst weit den Mund öffnen, und wehe, Ihr regt Euch.«
    »Soll er doch quasseln«, dachte Cornelius, während der Arzt ihm etwas Zähes und Heißes an das Zahnfleisch klebte. »Hauptsache, er macht gute Zähne.«
    »Die Liberey, das ist die Bibliothek der byzantinischen Kaiser, deren Grundstock die Sammlung der großen Bibliothek von Alexandria und die Werke der ersten christlichen Glaubenslehrer bildeten. Vor zweihundert Jahren brachte die Prinzessin Sophia, die Nichte des letzten Kaisers, diesen Schatz als Mitgift in die Ehe mit dem Großherzog der Moskowiter ein. Die ungebildeten Zaren interessierten sich wenig für die Bücher, und bis zur Herrschaft von Iwan lag die Bibliothek nahezu unangetastet in den großen Truhen herum. Ein halbes Jahrhundert vor Saventus bekam der gelehrte Mönch Maximus von Athos Zutritt zu den Büchern, doch man ließ ihn die Bibliothek nicht vollständig ordnen. Dabei schreibt Saventus, dass in den Truhen höchst seltene, manchmal auch einmalige Abschriften und Manuskripte lagen, von denen selbst das einfachste nicht weniger als tausend Golddukaten kosten würde. So waren die Preise vor hundert Jahren, in unserem aufgeklärten Jahrhundert würde der französische König für eine unbekannte Komödie von Aristophanes oder die eigenhändigen Notizen von Tacitus fünfzig-, nein hunderttausend Livres zahlen!«
    Cornelius kam es nicht mehr so vor, als erzähle Walser Quatsch. Wer hätte gedacht, dass ein antikes Geschreibsel so ein wahnwitziges Geld wert sein könne? Hunderttausend Livres!
    »Aber Aristophanes und Tacitus, das sind alles Kinkerlitzchen, mein kühner Hauptmann.« Der Apotheker beugte sich dicht über Cornelius’ Gesicht. In Walsers blauen Augen spiegelten sich die brennenden Kerzen als begeisterte Flämmchen. »Zu der Mitgift der Prinzessin Sophia gehörte eine Truhe mit geheimen, verbotenen Büchern, zu denen nur die gekrönten Häupter Zugang hatten. Was sich in dieser Truhe befand, wusste Iwan nicht, weil alle Bücher und Manuskripte dort in den antiken Sprachen verfasst waren. Saventus sollte ausgerechnet mit der geheimen Truhe anfangen. Außer einigen urchristlichen Büchern, die in Byzanz als häretisch gegolten hatten, entdeckte der Pastor ein griechisches Traktat zur Mathematik, verfasst von einem gewissen Samoley, von dem Saventus trotz seiner Gelehrtheit noch nie etwas gehört hatte.«
    Der Hauptmann zuckte die Achseln, um zu demonstrieren: »Na, ich erst recht nicht.«
    »Der Livländer machte sich an das Studium dieses Traktates und staunte: Das Buch war fingiert, genauer: es bestand aus zwei Büchern; oben auf den Pergamentblättern stand der griechische Text, darunter, auf Papyrus geschrieben, befand sich ein anderer, älterer. Früher machte man das manchmal so, versteckte ein Buch im anderen . . . Das Wachs ist hart. Kommt, ich nehme es raus.«
    »Und was stand auf diesem geheimen Papyrus?«, fragte von Dorn und wischte sich die Wachsreste vom Zahnfleisch.
    Adam Walser hob feierlich den Finger und verkündete:
    »Das ganze Gold des Weltalls.« Er schaute auf den Musketier, dem der Kiefer heruntergeklappt war, und lachte. »Im Ernst. Diese aramäische Handschrift enthält in allen Einzelheiten das Rezept für die Rote Tinktur.«
    »Was für ein Rezept?«
    »Das Rezept für die Rote Tinktur oder das Magisterium – das ist ein Elixier, das man manchmal auch Stein der Weisen nennt.«
    »Ist das der Stein der Weisen, den die Alchemisten suchen? Der Stein, mit dessen Hilfe man jedes beliebige Metall in Gold verwandeln kann?«
    »Vielleicht ist der Apotheker ja verrückt«, dachte der Hauptmann. »Na klar. Er benimmt sich merkwürdig und redet sonderbar.« Aber die Stimme des gesunden Menschenverstandes wurde von rasendem Herzklopfen übertönt und verstummte fast sofort. Das ganze Gold des Weltalls!
    »Nun, vielleicht nicht jedes beliebige«, schränkte Walser ein, »sondern nur jenes, welches der substanziellen Masse nach dem Gold am nächsten kommt. Zum Beispiel Quecksilber. Wisst Ihr, mein prächtiger Freund, in jedem Partikel der Materie schlummern gewaltige Kräfte, die nur auf den rechten Augenblick warten, um zu erwachen. Davon, in welchem Zustand diese Kräfte erkaltet sind, hängt ab, um was für einen Stoff es sich handelt: Eisen, Kupfer oder Zinn. Die Substanz, die Stein der Weisen heißt, weckt diese

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