Die Bibliothek des Zaren
Schrecklichen begegnet ist. Wenn der Pastor Nebensächlichkeiten so peinlich genau festhält, wieso sollte er sich dann Geschichten über den Stein der Weisen ausdenken?«
Der Apotheker schaute über die Brille hinweg den Hauptmann an und fuchtelte mit einer kleinen Feile herum, mit der er ein weißes Knochenstück bearbeitete – offenbar handelte es sich um das besagte magische Bein des Einhorns.
»Vielleicht bestand gerade darin die Verrücktheit des Pastors? In seinen Fantasien über die Liberey?«
»Nein, das kann nicht sein. Nachdem ich die Notizen gelesen hatte, habe ich Informationen über die kaiserliche byzantinische Bibliothek eingeholt und entdeckt, dass Saventus auch in diesem Punkt nichts erfunden hat. Die Liberey ist tatsächlich nach Moskau gelangt. Und später, als ich auf dem Weg nach Russland in Dorpat Halt gemacht habe, habe ich ein Verzeichnis der Liberey gesehen, das ein gewisser Pastor Wettermann zusammengestellt hat – das ist ein weiterer Livländer, dem Zar Iwan seine Buchschätze gezeigt hat. Die ›Mathematik‹ des Samoley wird auch in Wettermanns Verzeichnis erwähnt.«
»Das klingt überzeugend«, sagte Cornelius langsam. »Es gibt also keine Zweifel?«
»Nicht die geringsten.« Walser fuhr mit seiner Hand gleichmäßig über eine kleine Hobelbank, was von feinen, kreischenden Tönen begleitet war. »Ich nehme an, dass der russische Zar nach Saventus’ Flucht in Moskau niemand fand, der so gelehrt und scharfsinnig war, dass er die aramäischen Schriftzeichen nicht nur lesen, sondern auch entschlüsseln konnte. Saventus schreibt, der antike Autor habe eine Geheimschrift benutzt, die nur ein erfahrener Meister der Alchemie verstehen könne. Es ist bekannt, dass sich Zar Iwan in den späten Jahren seiner Herrschaft gerne mit Bücherliebhabern unterhielt und dies für einige von ihnen übel endete. Später wurde der Tyrann verrückt. Er führte ein Einsiedlerleben, ließ unter seinen Palästen im Kreml und auf dem Landsitz Alexandrowa Sloboda zahlreiche unterirdische Gänge anlegen und versteckte ständig irgendwelche Schätze vor echten und erfundenen Feinden. In einem dieser Geheimräume versteckte er auch die Liberey – wo genau, weiß keiner. Der Zar starb eines plötzlichen Todes, beim Schachspiel. Er hat es nicht geschafft, seine Geheimnisse einem Nachfolger zu offenbaren.«
»Und wo soll man nun die Truhen suchen?«
»Hier in Moskau«, erklärte Walser überzeugt, während er das zurechtgeschliffene Zahnpaar begutachtete. »Seit über sieben Jahren bin ich jetzt auf der Suche nach der Liberey. Ich habe mich nach Russland anwerben lassen, dann die Sprache gelernt und den orthodoxen Glauben angenommen, um die Bücher in den Zarenarchiven ungehindert lesen zu können. Fast in allen Ämtern habe ich Bekannte. Die einen habe ich behandelt, die anderen bewirtet, den Dritten habe ich Geschenke gemacht. Und jetzt bin ich der Lösung nah, sehr nah. Bald wird Samoleys Buch in meinem Besitz sein!«
»Ja, wirklich?!«, schrie Cornelius.
Der Apotheker beugte sich wieder über die kleine Hobelbank.
»Ja. Vor kurzem bin ich in einem alten Grundbuch des Amtes der kaiserlichen Handwerkskammer auf eine Eintragung aus dem Jahre 7072 gestoßen. Darin stand, dass dem Wasserbau-Meister Semjon Ryshow befohlen wurde, Bleiplatten herzustellen, um mit ihnen die Böden, Wände und Gewölbe eines Kellers abzudecken und sie anschließend zu verlöten, ›was für ein Keller aber, das steht in einem Dokument, das nur dem hohen Herrscher bekannt ist‹. Stellt Euch das einmal vor!«
Von Dorn dachte nach und sagte achselzuckend:
»Das kann doch alles Mögliche sein!«
»Nein, mein prächtiger Freund, verlötete Bleiwände und Bleidecken braucht man zum Schutz vor Feuchtigkeit – damit die Bücher nicht feucht werden. Auch die Zeit stimmt: Saventus floh im Herbst 1564 aus Moskau, das ist nach Moskauer Zeitrechnung das Jahr 7072! Das war das Versteck für die Liberey, da bin ich mir sicher.«
»Und wisst Ihr, wo sich dieses Versteck befindet?«
Walser trat näher an den Hauptmann heran.
»Ja, das weiß ich. Ich muss vorher nur noch etwas klären. Noch ein kleines bisschen, und ich habe die Lösung . . . Macht bitte den Mund auf.«
Aber Cornelius öffnete nicht sofort den Mund. Er schaute in die zusammengekniffenen Augen des Apothekers und fragte:
»Wenn nur noch ein kleines bisschen fehlt, wofür braucht Ihr mich dann? Warum habt Ihr mich in Euer Geheimnis eingeweiht? Habt Ihr keine Angst, dass
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