Die Bibliothek des Zaren
unterschwellige Kraft, steigert sie um ein Vielfaches, so dass die Kräfte der Materie in Bewegung kommen und schon eine andere Zusammensetzung haben, wenn sie erkalten. Infolge dieses Prozesses kann sich ein Element in ein anderes verwandeln. Es versteht sich, dass es zur Transmutation umso weniger vom Stein der Weisen bedarf, je verwandter die Elemente untereinander sind.«
»Und dieser Samoley enthält ein Rezept zur Goldgewinnung?«
»Ja, mit einer peinlich genauen Beschreibung aller Stadien dieses Prozesses und sogar mit einer Probe in Gestalt von Goldkörnchen. Saventus hat sie mit eigenen Augen gesehen und mit Säure getestet.«
Cornelius fasste sich mit der Hand an den Kragen, es war schwül und heiß.
»Das ist also alles sicher? Und der Stein der Weisen ist keine Erfindung von Scharlatanen?«
»Der Pastor schwört in seinen Notizen bei Jesus dem Herrn, dass das Gold echt ist und das Rezept stimmt. Saventus hat sich mit Alchemie beschäftigt, so dass er sich mit diesen Dingen auskennt.«
»Wartet, Herr Walser, ich verstehe absolut nichts . . .« Der Hauptmann griff sich an die Schläfen und fragte dann: »Und warum haben sich die Kaiser von Konstantinopel das Rezept nicht zu Nutze gemacht? Mit dem Stein der Weisen hätten sie doch nicht nur das große Römische Imperium wiederherstellen, sondern die ganze Welt erobern können!«
Der Apotheker guckte verwirrt.
»Ja, warum eigentlich nicht?«, brummte er. »Ah, ich weiß. Die Kaiser hielten die Alchemie für Teufelswerk, für eine diabolische Wissenschaft. Das Reich von Byzanz existierte tausend Jahre und änderte sich in dieser Zeit kaum. Es ähnelte einer Fliege, die im Bernstein eingeschlossen ist. Die Byzantiner glaubten nicht an die Wissenschaft, die Vernunft und den Fortschritt; das ist auch der Grund, warum sie von westlichen und östlichen Barbaren überrundet wurden. In Konstantinopel wurde das Wissen nicht vorangetrieben, sondern nur ohne jeden Nutzen angehäuft. Man kann froh sein, dass sie es nicht vernichteten, sondern bewahrten – wie diese verbotene Truhe mit den Büchern. In dieser Beziehung waren die griechischen Kaiser den russischen Zaren sehr ähnlich.«
»Hatte Zar Iwan denn ebenfalls Angst vor dem Teufelswerk?«
»Nein, das glaube ich nicht. Als Saventus ihm von seinem Fund Meldung machte, befahl der Zar, die Pergamentseiten des fingierten Traktats herauszureißen und den Papyrus in einen silbernen Beschlag einzufassen, der, wie es in den Notizen heißt, mit ›feuerroten Karfunkeln des Landes Wuth‹ besetzt sein sollte. Um was für ein Land es hier geht, weiß ich nicht, aber ›Karfunkel‹ ist eine andere Bezeichnung für Rubine.«
»Ein mit Rubinen besetzter Buchdeckel?«, fragte von Dorn mit zitternder Stimme nach. Einen solchen Schatz konnte er sich leichter vorstellen als diesen obskuren Stein der Weisen.
»Ja. Aber als er sah, was für ein gieriges Feuer in den Augen des Zaren entbrannt war, erschrak der Pastor und begriff, dass Iwan den Besitzer eines solchen Geheimnisses nie lebend ziehen ließe. So machte Saventus es sich zu Nutze, dass er sich frei bewegen konnte, und floh aus Moskau – zuerst nach Litauen, von da nach Polen und schließlich bis nach Heidelberg, wo er sich niederließ. Dort vermachte er seine Notizen der Universität und starb bald. Auf dem Titelblatt der Handschrift sieht man die Bemerkung des wissenschaftlichen Sekretärs: ›Unsinn und Quatsch, denn Herr Doktor Saventus war, wie allgemein bekannt, geistig umnachtet. Und auch sein Gefasel von den Gebräuchen der Moskowiter ist unglaubwürdige So sah also das Urteil aus. Da ist es kein Wunder, dass sich im Verlauf von hundert Jahren keiner vor mir mehr die Handschrift angesehen hat.«
»Und was, wenn das wirklich alles Unsinn und Quatsch ist?«, fragte der Hauptmann aufgeregt. »Schließlich habt Ihr diesen Saventus ja nicht gesehen, während der wissenschaftliche Sekretär ihn gut gekannt hat. Es scheint doch, in Heidelberg haben alle gewusst, dass Herr Saventus verrückt ist.«
»Durchaus möglich, dass Saventus’ Verstand durch die Missgeschicke, die ihm widerfahren sind, Schaden genommen hat«, gab Walser zu. »Aber sein Zeugnis ist absolut kein Unsinn. Für die Heidelberger Professoren des vorigen Jahrhunderts war Moskowien ein Märchenland; ich dagegen weiß jetzt sicher, dass der Pastor die Bräuche der Moskowiter wahrheitsgemäß darstellt. Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass Saventus wirklich im Kreml gelebt hat und Iwan dem
Weitere Kostenlose Bücher