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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und festgehaltene Gesetzesbrecher aussteigen konnten). Sein Portemonnaie mit dem Geld, den Papieren und Kreditkarten hatte Fandorin für alle Fälle in seinem Aktenkoffer gelassen; nur ein paar Tausendrubelscheine, die er vorsichtshalber in Riga am Bahnhof eingetauscht hatte, nahm er mit.
    Der Schaffner, der auf dem Trittbrett saß, rückte zur Seite, um den Fahrgast aussteigen zu lassen, und gähnte laut. Begleitet von diesem unromantischen Klang, betrat der Nachkomme der acht Generationen russischer Fandorins den mit Asphalt überzogenen Heimatboden.
    Er schaute nach links und nach rechts.
    Links hing ein verblichenes langes Transparent, auf dem ein schnurrbärtiger sowjetischer Soldat mit Käppi abgebildet war und in weißen Buchstaben geschrieben stand:
    50. JAHRESTAG DES GROSSEN SIEGES.
    WIR SIND MIT DIR UM DIE HALBE WELT GEZOGEN:
    WENN ES SEIN MUSS, WIEDERHOLEN WIR’S!
    Rechts stand ein kleiner Lenin aus Gips mit Schirmmütze und ausgestreckter Hand. Nicholas wunderte sich darüber, hatte es in den Zeitungen doch geheißen, alle Denkmäler des totalitaristischen Personenkults seien längst abgerissen. Offenbar handelte es sich hier um so etwas wie eine »rote Zone«, dachte der Magister und betrat das Bahnhofsgebäude.
    Es roch dort wie in einer seit langem verstopften Toilette, und auf den Bänken lagen und schliefen dreckige, abgerissene Gestalten – das waren offenbar die Penner von heute, die im Russischen Bomsh heißen.
    Nicholas genierte sich, diese malerischen Alkis genauer in Augenschein zu nehmen, und ging im Eilschritt zur Glastheke des Büffets.
    Aufgrund der nervlichen Anspannung gelüstete es ihn nach etwas besonders Verwegenem: einem Hot Dog oder gar einem Hamburger. Aber auf den Tellern lagen nur verschieden große Scheiben Weißbrot mit einer fetten schwarzen Wurst, nach oben gewellten Käsescheiben und kleinen vertrockneten Fischen. Das Aussehen dieser Sandwichs ließ Fandorin zusammenzucken. Sein Blick schweifte über die Auslage, und schließlich bat er die müde, geistesabwesende Verkäuferin, die in das Studium der über die Theke kriechenden Fliegen vertieft war:
    »Ich möchte bitte einen Joghurt. Mit Früchten. Oder besser: gleich zwei.«
    Ohne die Augen zu heben, knallte die Verkäuferin zwei »Tutti frutti«-Becher auf die Theke (Nicholas kaufte sonst immer »Danone«, fettarm und ohne Geschmacksstoffe, aber wenn schon sündigen, dann auch richtig), nahm die zwei Tausendrubelscheine an sich und legte statt des Wechselgeldes drei in unansehnliches Papier gewickelte Fruchtbonbons hin.
    »Entschuldigen Sie, das Haltbarkeitsdatum dieser Ware ist vor einem Monat abgelaufen«, sagte Fandorin, nachdem er den Aufdruck studiert hatte. »Man kann diesen Joghurt hier nicht essen.«
    Da würdigte die Verkäuferin den wählerischen Kunden endlich eines Blickes und zischte hasserfüllt:
    »Ach, wenn du wüsstest, wie leid ich euch alle bin. Zieh Leine, Onkel Stjopa! Als ob ich ohne dich nicht genug Probleme hätte.«
    Und sie sagte das so aufrichtig und überzeugend, dass Nicholas seinen abgelaufenen Joghurt einsteckte und irritiert zum Ausgang ging.
    An der Tür zupfte ihn jemand am Ärmel.
    »Mister, he, you want a fuck?«
    Fandorin glaubte, er habe sich verhört – dieses abstoßende, bärtige Subjekt, das einem Waldschrat aus dem Märchen glich, konnte ihm ja wohl kaum allen Ernstes seine sexuellen Dienste anbieten.
    »Ten bucks. Only ten bucks! To the next Station«, der Unbekannte zeigte auf den Zug und dann zur Seite: »Ten bucks!«
    Es stellte sich heraus, dass neben ihm an der Wand ein Mädchen stand: mit roten Haaren und Sommersprossen, dem Aussehen nach nicht älter als dreizehn. Sie schaute gleichgültig auf den Ausländer, klapperte mit ihren zugekleisterten Wimpern und ließ ihren knallroten Lippen eine Kaugummiblase entsteigen.
    »Um Gottes willen, sie ist doch noch ein Kind!«, rief der erschütterte Nicholas aus. »Wie alt bist du denn, Mädchen? Gehst du zur Schule? Wie kannst du nur? Für zehn Dollar! Das ist ja unglaublich!«
    Das Mädchen schniefte mit der Nase und ließ den Kaugummi laut zerplatzen, während der Zuhälter den Magister an der Schulter packte und ihm auf Russisch sagte:
    »Du kannst ja mehr geben, wenn du so fürsorglich bist.«
    Fandorin machte, dass er aus dieser Hölle herauskam.
    »Fuck you, Mister!«, schrie ihm der Bärtige hinterher.
    Schreck lass nach, der Zug setzte sich schon in Bewegung, obwohl die fünfzehn Minuten noch nicht vorbei waren! Schon

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