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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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der Gedanke, er könne in diesem alptraumhaften Neworotinskaja hängen bleiben, jagte ihm einen solchen panischen Schrecken ein, dass Nicholas die Joghurts in den Abfalleimer schleuderte und die Beine in die Hand nahm, um den sich entfernenden Wagen einzuholen.
    Er schaffte es mit Ach und Krach aufzuspringen. Im Vorraum stand der Schaffner mit zwei hoch gewachsenen jungen Männern in blau-weißen Jogginganzügen und rauchte. Er blickte sich flüchtig nach dem atemlosen Engländer um und verzog keine Miene als Reaktion auf dessen geglückte Rückkehr.
    »Nein, ich fahre nicht nach Infernograd«, dachte Fandorin, als er den Gang entlangschritt, »ich scanne die zweite Hälfte des Testaments ein, gehe die Papierrollen der Ausländer – und der Reiter-Behörde durch und nichts wie zurück nach London. Drei Tage. Allenfalls fünf. Und in Moskau fahre ich nur vom Hotel zum Archiv und zurück.«
    ***
    Nein, die historische Heimat gefiel Fandorin überhaupt nicht. Wie konnte es nur angehen, dass sie dem Sänger Schewtschuk gefiel?
    Am schlimmsten war, dass sich in der Seele des Magisters ein ungutes Vorgefühl meldete, das ihm sagte, er werde nun auch das frühere Russland nicht mehr so rückhaltlos lieben können wie früher. Ach Vater, Vater, du weisester aller Menschen . . .
    Der Sahnehändler hatte sich im Abteil eingeschlossen und ließ den Weggefährten nicht sofort ein, und als er endlich geöffnet hatte, hielt er sich demonstrativ eine lettische Illustrierte vor die Nase.
    Immer wenn Nicholas in einer schwierigen Lage oder besonders übler Gemütsverfassung war, dichtete er einen Limerick. Die Mischung aus intellektueller Anstrengung, die für diese subtile Beschäftigung erforderlich war, und komischem Quatsch, der dabei herauskam, entspannte ihn und stellte wieder eine positive Weitsicht her. Das bewährte Mittel half auch jetzt – nach der Übung im Verseschmieden hob sich seine Laune tatsächlich etwas.
    Da klopfte jemand vorsichtig an die Tür. Fandorin stand auf, um den Riegel zurückzuschieben, aber Mister Kalinkins legte die Zeitschrift aus der Hand und sagte nervös auf Russisch:
    »Nur mit vorgelegter Kette! Nur mit vorgelegter Kette!«
    In dem sich auftuenden Spalt war es ganz dunkel, obwohl doch noch vor ein paar Minuten im Gang Licht gebrannt hatte. Eine Hand in etwas Blauem, mit einem weißen Streifen am Ärmel fuhr auf Nicholas’ Gesicht zu, und ein prickelnder, übel riechender Strahl traf auf seine Nase.
    Fandorin wollte sich über eine solch unglaubliche Frechheit empören, tat es aber nicht, weil seine Beine ihn plötzlich nicht mehr hielten.
    Der Magister der Geschichte sackte zu Boden, spürte die Härte der Metallkante, als er mit der Schläfe gegen den Türrahmen stieß, und verlor den Kontakt mit der Realität.
    Die Rückkehr der Realität machte sich bei dem benommenen Engländer ebenfalls über die Schläfe bemerkbar. Diese schmerzte und pulsierte so stark, dass Nicholas, ob er wollte oder nicht, erst mit seinem bleiernen Kopf wackeln musste, bevor er überhaupt die Augen öffnen konnte.
    Es brauchte noch weitere fünf Minuten, bis er die abgerissene Kette der Ereignisse rekonstruiert und erfasst hatte, was geschehen war.
    Mister Kalinkins lag mit verdrehten Augen an seinem Platz. Speichel lief ihm aus dem Mund, auf der Brust lag seine gähnend leere Brieftasche.
    Nicholas kniete sich neben den Weggefährten und tastete nach der Halsschlagader: Gott sei Dank, er lebte.
    Sein Fuß stieß gegen etwas Hartes. Der Aktenkoffer! Sein eigener Samsonite, der schuldbewusst den Besitzer anstarrte.
    In seinem Inneren: gähnende Leere. Weder Notebook noch Handy noch Portemonnaie, noch – was die größte Katastrophe war – der Briefumschlag, in dem sich das dreihundert Jahre alte Erinnerungsstück der Familie befunden hatte.
    Schrecklich, schrecklich!
    Anlage:
    Der Limerick, den Fandorin nach der Abfahrt vom Bahnhof Neworotinskaja am Abend des 13. Juni kurz nach zehn dichtete:
    Ein nicht ganz dichter Magister,
Nicht gerade listig in Entscheidungen ist er.
Also hat ihn der Teufel gesandt
In der Espen und Birken Land
Und dem Dummkopf bedeutet: »Fuck you, Mister.«

ZWEITES KAPITEL
    Cornelius lacht das Glück. Die Schätze der
Ledertasche. Bekanntschaft mit den Moskowitern.
Das Dorf Neworotynskaja. Gutes Vorzeichen.
Trügerisches Paradies
    Cornelius schrie durchdringend »Jäää!«, zog dem gutmütigen spanischen Hengst, den er für dreiundvierzig Reichstaler (die Hälfte des Moskauer Vorschusses

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