Die Bibliothek des Zaren
in Textilschtschiki, dann nach Samoskworetschje und Marina Roschtscha) fingen an, die Schollen umzudrehen, und stocherten in der Erde.
Beim ersten Mal kam Sergejew höchstpersönlich. Er ging auf und ab, guckte und fuhr weg.
Beim zweiten Mal erschien der Oberst nicht mehr, aber hinter den Trümmern lugten ständig die Bodyguards hervor. Als sie ihnen ganz dicht auf die Pelle rückten, brachte Nicholas sie auf Trab: Er drückte den jungen Männern die Spaten in die Hand und ließ sie einen riesigen Abfallhaufen von einer Stelle an eine andere schaffen. Die Jungen kamen ins Schwitzen, machten sich ihre schicken Anzüge dreckig, und einer bekam einen herabfallenden Ziegelstein auf den Knöchel und verletzte sich.
Beim dritten Mal arbeiteten Fandorin und Bolotnikow schon mutterseelenallein – die Bodyguards hielten sich raus und bekundeten keinerlei Interesse mehr an dem Gebuddel der verrückten Historiker. Das hieß, es war so weit, sie konnten loslegen.
Der Plan sah folgendermaßen aus: Sergejews schmucke Knaben sollten an der Ecke des Hauses Nr. 15 stehen und aufpassen, dass sie keiner störte: keine Halbstarken, Alkoholiker, Liebespaare ohne Zuflucht, und wenn eine Milizstreife sich für den Lichtstrahl interessierte, der im Kellerfenster aufleuchtete, würden die Bodyguards sich mit ihr schon ohne Probleme einig werden. Nicholas und Bolotnikow sollten die morsche Tür öffnen, nach unten klettern und den Anweisungen von Dorns folgen. Wenn es gelänge (o wenn doch!), etwas zu finden, sollten sie versuchen, den Wert des Schatzes grob zu überschlagen, würden aber noch nichts nach oben schaffen. Sie würden dann im Gegenteil aus Gründen der Konspiration am nächsten und auch noch am übernächsten Tag zu irgendwelchen anderen Ruinen fahren und sich in der Zwischenzeit überlegen, wie und in welcher Form sie den grandiosen, sensationellen Fund urbi et orbi bekannt geben sollten.
Sie kamen kurz nach ein Uhr nachts an der Taganskaja-Uliza an. Kein Mensch weit und breit, es war ruhig. Fandorin schaute nach rechts, nach links und nach oben.
Er sah, dass der Mond die Schatzgräber durch eine lockere Wolkendecke beobachten wollte, aber nicht durchdrang, so dass der Himmel schwarzgrau war und im Farbton einem marmornen Grabstein glich.
Sie wiesen den Knaben ihre Posten zu, kletterten durch ein Loch im Zaun in den Hof und arbeiteten sich fünf Minuten später schon durch Berge von Brettern und Schutt nach unten in den Keller vor. Sie mussten die verrostete Eisentür mit der Brechstange einschlagen. Das Lärmen und Dröhnen hallte in einem unharmonischen Echo zwischen den dunklen Wänden wider, von denen Fetzen abgeblätterter Farbe herabhingen.
»So«, sagte Fandorin aus irgendeinem Grund im Flüsterton, als er die Decke des Kellers ableuchtete. »Die nordöstliche Ecke, das ist da.«
Der Archivar ging zur Wand und kratzte mit einem Messer an ihr herum.
»Kalkstein, gewöhnlicher Moskauer Kalkstein«, meldete er gleichfalls mit gedämpfter Stimme. »Und altes Mauerwerk. So wurde schon unter Iwan III. gebaut. In Moskau stehen viele Häuser auf einem solchen Fundament. Ein Bindemittel auf der Basis von Eigelb mit ein bisschen Honig, Bienenwachs, Hühnerkot und weiß der Himmel was noch. Das hält besser als jeder heutige Mörtel.«
Nicholas, der vor Aufregung zitterte, fand den architekturgeschichtlichen Vortrag jetzt fehl am Platze. Der Magister marschierte in die hinterste, hofseitig gelegene Ecke, stellte die Laterne neben sich ab und ergriff den Spaten. Der Boden musste erst mal vom Müll gereinigt werden.
Das Lied von der unauffindbaren Suliko hatte Fandorin von dem Tag an in Ruhe gelassen, da er die Fenster an der Fassade des Hauses Nr. 15 nachgezählt hatte. Statt georgischer Folklore hatte sich in Nicholas’ Kopf jetzt ein Gedicht aus einem Buch eingenistet, das er dem Schrank im Arbeitszimmer entnommen hatte. Offenbar war die Wohnung in der Kijewskaja-Uliza für Geschäftspartner der »Eurodebet«-Bank gedacht, die sich vorübergehend in der Stadt aufhielten, entsprechend war die Literaturauswahl in dem Schrank auch ausgerichtet: alle möglichen Business-Handbücher, Hochglanz-Zeitschriften, ganze fünf Exemplare der »Enzyklopädie der russischen Banken« und aus irgendeinem Grund auch ein verwaister Band der Reihe »Meister der Sowjetpoesie«. Darin blätterte Fandorin nachts, wenn er nicht schlafen konnte.
Die Verse des Gedichts waren aufdringlich, es ging um eine vorpubertäre Liebe. »Das
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