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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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sich einst die Ausländervorstadt Kukuj befunden. Über diesen Weg war Hauptmann Fondorin geritten, wenn er zum Dienst musste: zur Wache, zum Exerzieren oder ins Arsenal.
    »Hilf mir, Cornelius«, flüsterte der Magister, als er über die Nowobasmannaja-Uliza ging. »Antworte, streck mir deine Hand aus der Finsternis entgegen, ich tue mich so schwer. Könnte ich doch nur deine Fingerkuppen berühren, dann käme ich schon alleine weiter. Warum hast du das Schriftstück in zwei Hälften gerissen, hast die eine Hälfte in Infernograd versteckt und die andere mitgenommen?«, fragte Nicholas den fernen Vorfahren. Der
    Vorfahre schwieg lange, dann fing er an zu reden: zuerst leise, so dass es kaum zu hören war, dann lauter.
    »Ich wusste nicht, was mich in Moskau erwartet«, erklärte er und strich sich dabei über den gekräuselten Schnurrbart. Sein Gesicht war nicht zu sehen, nur dieser kecke Schnurrbart, und im rechten Ohr strahlte ein goldener Ring. »Ich wusste nicht, ob das Versteck in Infernograd sicher ist. Ich habe dort das Teuerste versteckt, was ich besaß, brachte es aber nicht über mich, den ganzen Brief über die Liberey dort zu lassen. Das Geheimnis, das er enthält, ist zu groß. Wenn mich in Moskau das Schafott erwartet hätte, wäre die linke Hälfte bei meinen Papieren geblieben. Und wo die rechte zu suchen ist, das hätte ich einem treuen Menschen vor der Hinrichtung zugeflüstert – damit der es meinem Sohn erzählt, wenn dieser erwachsen ist. Wer konnte denn wissen, dass es mir nicht vergönnt sein sollte, wie ein Christenmensch nach Gebet und Absolution zu sterben, sondern dass ich ohne Buße mit dem Degen in der Hand durch die Hellebarden der Strelitzen umkommen würde?«
    Der Vorfahre sprach einen alten schwäbischen Dialekt, den Nicholas extra gelernt hatte, um die alten Schriftstücke zur Geschichte seines Geschlechtes lesen zu können. Aber er sagte nur das, was der Magister sich auch selbst hätte zusammenreimen können, sein wichtigstes Geheimnis aber gab er nicht preis.
    Am Abend des fünften Tages war der Magister am Taganskaja-Platz angekommen, wo einst das Jausa-Tor gestanden hatte. Vier alte Straßen führten von dort nach Südosten: die Taganskaja (früher: Semjonowskaja), die Marxistskaja (früher: Pustaja), die Woronzowskaja und die Bolschije Kamenstschiki-Uliza.
    Als Erste kam die Taganskaja-Uliza dran. Nicholas blickte mutlos (»zwi-schen-den-blü-hen-den-Ro-sen-im-Hain«) um sich, während er die Schritte abzählte – es mussten sechshundertdreißig sein, was mehr oder weniger genau fünfhundert Metern entsprach.
    Beim vierhundertzweiundvierzigsten Schritt schaute der Magister zerstreut zur anderen Straßenseite hinüber, wo eine verfallene einstöckige Villa stand, um die ein grünes Baunetz gespannt war – sie sollte wohl restauriert werden. Oder nein, abgerissen werden sollte sie wohl. Ein Haus wie jedes andere auch, nichts Besonderes. Dem Aussehen nach: Ende des vorigen Jahrhunderts, vielleicht auch älter, dann aber war es stark umgebaut worden, und das wiederum hieß, dass es keinen architekturgeschichtlichen Wert hatte.
    Plötzlich drang ein leiser Ton an Fandorins Ohr, als ob jemand Nicholas aus weiter, weiter Ferne rufen würde, ohne sonderliche Hoffnung, gehört zu werden. Er schaute sich die Villa genauer an: ausgeschlagene Fensterscheiben, ein eingestürztes Dach, unter dem abbröckelnden Stuck schienen schwarze Balken durch. Er zuckte die Achseln und ging weiter – er hatte noch hundertneunzig Schritte vor sich.
    Er brachte den Weg hinter sich und notierte die Hausnummern rechts und links. Er überlegte, ob er nicht mit dem Auto zum Platz zurückfahren sollte, ließ es aber.
    Als er an der verfallenen Villa vorbeikam, achtete er darauf, ob er nicht wieder den Ruf hörte. Nein, nur die gängigen Stadtgeräusche: das gleichmäßige Rollen der Reifen, das Sirren eines beschleunigenden Trolleybusses, Musikfetzen aus einem Park. Und doch war an dem Haus etwas Merkwürdiges, das sich nicht sofort dem Auge erschloss. Nicholas streifte die toten, blinden Fenster mit dem Blick, um zu verstehen, woran das lag.
    Die Bodyguards sprangen aus dem Jeep, blickten um sich und stürzten zum langen Engländer, der auf einmal wankte und mit den Händen nach Luft schnappte.
    »Sind Sie verwundet? Wo?«, schrie der eine, der Nicholas am Ellbogen gefasst hielt, während der andere seine Pistole aus dem Jackett zog und mit den Augen die Nachbardächer absuchte.
    »Dreizehn!«, stammelte

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