Die Bibliothek des Zaren
sakralen Sinn, und die seltsame Zahl der Fenster hängt offenbar damit zusammen.«
»Das ist alles schön und gut«, wandte Nicholas ungeduldig ein. »Aber was hat das mit von Dorn zu tun? Der hat doch anderthalb Jahrhunderte davor gelebt!«
»Warten Sie, warten Sie.« Der Archivar zwinkerte ihm zu wie ein Weihnachtsmann, der gerade sein bestes Geschenk aus dem Sack ziehen will. »Über das Haus von Muschnikow steht geschrieben, es sei ein ›hölzernes Blockhaus auf einem weißen Steinfundament, das als Einziges erhalten ist von dem früheren an derselben Stelle befindlichen Bau aus Eichenholz, dem Haus eines Zauberers, das beim Brand von 1812 den Flammen zum Opfer fiel‹ Dieser ganze Stadtteil brannte beim Einmarsch der Franzosen fast völlig ab und wurde im Verlauf von anderthalb Jahrzehnten Schritt für Schritt wieder aufgebaut.«
»Das Haus eines Zauberers, ist das eine Anspielung auf den Nachnamen des früheren Besitzers?«, fragte Nicholas vorsichtig, als fürchte er die Beute zu verscheuchen. »Oder . . .«
Bolotnikow lächelte.
»Die Oder-Variante ist eher richtig. In einem der Polizeiberichte des Taganski-Reviers aus dem Jahre 1739 stieß ich auf die – einmalige und beiläufige – Erwähnung des ›Hauses eines Zauberers oder, was dasselbe ist, eines gewissen Walser‹. Und in der Gehaltsliste der Ausländerbehörde für das Jahr 1672 und außerdem in einer Akte über die Zubereitung von Heilkräutern des Apotheken-Amtes aus dem Jahre 1674 habe ich zweimal den Namen ›des deutschen Meisters der Apothekenkunst Adam Walser‹ gefunden. Sie wissen ganz genau, dass den Moskauern der damaligen Epoche ein Apotheker, und erst recht einer, der zu den Ungläubigen gehörte, wie ein Zauberer Vorkommen musste.«
»Ein Deutscher!«, schrie Fandorin. »Auch Cornelius war Deutscher!«
»Das stimmt zwar, aber damit sind die Fakten, über die wir verfügen, auch erschöpft, und die Vermutungen beginnen. Wie ist es dazu gekommen, dass die Fassade des Hauses nach dem Brand genauso viele Fenster aufwies wie vorher, als es das Haus des Apothekers war? Ist das Zufall?«
Der Magister schüttelte den Kopf und antwortete:
»Natürlich nicht! Muschnikow hat das Grundstück mit der Ruine vom Haus jenes Zauberers gerade deshalb gekauft, weil dem Selbstgeißler diese ungewöhnliche Fensterzahl wie ein gutes Vorzeichen erschien. Vielleicht war das Haus nicht völlig abgebrannt, und man konnte die Umrisse der Fassade noch erkennen. Oder die Erinnerung an den Bau mit seinen dreizehn Fenstern vor dem Brand war einfach noch lebendig. Schließlich waren seit dem Einmarsch Napoleons gerade mal elf Jahre vergangen.«
»Das glaube ich auch«, stimmte Maxim Eduardowitsch zu, schob die Papiere beiseite, drehte sich zu Fandorin und sagte, jedes einzelne Wort betonend: »Das Wichtigste für uns ist, dass Muschnikow auf demselben Fundament gebaut hat. Da haben wir also das ›vornehme Grundwerck‹, es ist auch bei dem großen Brand nicht den Flammen zum Opfer gefallen. Ich hoffe, Fan-dorin, Sie verstehen, was das heißt?« Und er fügte mit lautem Flüstern hinzu: »Wir brauchen weder Sponsoren noch Beamte. Wir kommen alleine an die Liberey!«
Sie brauchten volle drei Tage für die Vorbereitung, obwohl die Schatzsucher eine schreckliche Ungeduld quälte. Nicholas gelang es erst vor dem Morgengrauen, für zwei, drei Stunden und nicht mehr einzuschlafen, während Bolotnikow, den roten Lidern und den Ringen unter den Augen nach zu urteilen, anscheinend überhaupt nicht schlafen konnte.
Für die Beschaffung der nötigen Werkzeuge brauchten sie keine Zeit; Fandorin übergab Sergejew einfach eine Liste, und noch am selben Tag wurden in die Kijewskaja-Uliza zwei leichte Schweizer Spaten einer besonderen Konstruktion gebracht, zwei Spitzhacken, eine Hebewinde, zwei einfache Brecheisen, wie sie Hausmeister zu haben pflegen, Taschenlampen, eine Strickleiter und ein Bohrer, für den Fall, dass sie schürfen müssten.
»Ihr wollt wohl einen unterirdischen Gang anlegen?«, fragte Wladimir Iwanowitsch scheinbar aus Spaß und verschlang dabei mit seinen grauen Augen den Papierstapel, der auf dem Tisch lag.
»Ja, wir müssen etwas suchen«, antwortete Fandorin unkonzentriert.
»Alles klar«, sagte der Oberst und nickte.
Die Verzögerung geschah gerade seinetwegen. Drei Abende gingen für ein Ablenkungsmanöver drauf. Die Partner fuhren mit dem ganzen Werkzeug zu irgendwelchen wahllos ausgewählten Ruinen (zuerst zu einer stillgelegten Fabrik
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