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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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der Magister und strahlte den strengen jungen Mann mit einem idiotischen Lächeln an. »Dreizehn Fenster!«
    ***
    »Mein erster Fehler: Der Name der Tore war doch keine Beschreibung, sondern ein Eigenname. Mitte des siebzehnten Jahrhunderts war in der Nähe des Neuen Klosters des Erlösers – also hier – eine Vorstadt entstanden, in der die Maurer des Zaren wohnten. Sehen Sie, Fandorin, die Straßen heißen sogar entsprechend: Bolschije Kamenschtschiki und Malyje Kamenschtschiki, Große und Kleine Maurerstraße. Offenbar hieß deshalb das Jausa – oder, was dasselbe ist, das Taganskaia-Tor eine Zeit lang Steinernes Tor, doch bürgerte sich dieser Name nicht ein und geriet später in Vergessenheit.«
    Die Historiker waren in Nicholas’ Wohnung. Sie saßen wieder am Tisch, auf dem ein Haufen von Karten, Skizzen und Kopien alter Schriftstücke ausgebreitet war, aber zwischen den Partnern hatte ein Rollentausch stattgefunden, der zwar nicht sehr auffiel, aber doch von beiden registriert worden war. Der Magister hatte jetzt das Sagen, während der Doktor der Geschichtswissenschaften auf einmal in der Rolle des Berichterstatters war und sich obendrein auch noch rechtfertigen musste.
    »Mein zweiter Fehler ist noch weniger verzeihlich. Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass es sich bei den Sashen, von denen in dem Schriftstück die Rede ist, um das Standardlängenmaß handelt, das von alters her bekannt ist und seit dem achtzehnten Jahrhundert überall Verbreitung gefunden hat: um die so genannte schiefe Sashen, die 1835 offiziell mit 48 Werschok gleichgesetzt wurde, also 213 Zentimetern entspricht.«
    Bolotnikow stand auf, stellte sich breitbeinig hin, hob die Arme und spreizte sie. Es entstand etwas, das aussah wie der Buchstabe X.
    »Das ist eine schiefe Sashen: der Abstand zwischen der linken Fußspitze und dem Ende der rechten Hand. Deshalb bin ich zu dem Schluss gekommen, dass 230 Sashen 490 Metern entsprechen. Dabei wurde im siebzehnten Jahrhundert – und ich schäme mich, dass ich das außer Acht gelassen habe – häufiger die so genannte gerade Sashen gebraucht: der Abstand zwischen den Fingerspitzen der horizontal ausgestreckten Arme, so.« Maxim Eduardowitsch stellte sich hin wie ein Fischer, der einen riesigen Fisch gefangen hat. »Das sind 34 Werschok, das heißt: 152 Zentimeter. Das von Ihnen entdeckte Haus befindet sich in 3 50 Meter Entfernung vom einstigen Jausa-Tor, das entspricht genau 230 geraden Sashen!«
    Jede neue Bekräftigung der Tatsache, dass er Recht hatte, wurde von einer süßen warmen Welle in Nicholas’ Brust und einem seligen Lächeln begleitet, gegen das der Triumphator erfolglos ankämpfte – die Lippen öffneten sich ganz undezent von selbst, was die Wunden, die der Eitelkeit des Berichterstatters zugefügt worden waren, vermutlich noch vertiefte. Doch nein, das stimmt nicht. Man muss es Maxim Eduardowitsch lassen: Er war von dem wunderbaren Fund selbst so erregt und beflügelt, dass er seinen Dünkel und seine Hochnäsigkeit ganz einfach vergessen hatte.
    »Weiter«, sagte er und lächelte in Reaktion auf Nicholas’ Strahlen. »Die heutige Taganskaja-Uliza war vor dreihundert Jahren die Hauptstraße der schwarzen Semjonowskaja Sloboda – da haben Sie also unsere ›schwarze Vorstadt‹. Es haut alles hin, Fandorin, alle in dem Brief angegebenen Merkmale treffen zu. Und jetzt die Hauptsache: das Haus. Ich habe die Dokumente zur Bebauungsgeschichte dieses Grundstücks geprüft und etwas Interessantes gefunden. Gucken Sie mal.«
    Die Kollegen beugten sich über die Kopie eines langweiligen offiziellen Dokumentes mit einem rechteckigen Stempel.
    »Haus Nummer 15 ist, da baufällig und ohne kulturellen und historischen Wert, zum Abriss bestimmt. Erbaut 1823 vom Kaufmann Muschnikow. 1846, 1865 und 1895 umgebaut. 1852 und 1890 abgebrannt. Mit einem Wort, die normale Geschichte eines normalen Moskauer Hauses, nichts, was irgendwie auffällt. Aber. . .« Bolotnikow legte auf die Kopie ein Heft mit seinen Aufzeichnungen. »Schauen Sie mal, was ich herausgefunden habe. Fangen wir mit dem Namen des Besitzers an: Es ist nicht bekannt, wer von den Muschnikows das Haus erbaut hat, aber die Muschnikows sind eine im vorigen Jahrhundert recht bekannte Familie, die der Sekte der Selbstgeißler angehörte, die sich wahrscheinlich in dem uns interessierenden Haus zu Gebetsversammlungen und Metten trafen. Die Zahl Dreizehn hatte bei einer der Richtungen dieser Selbstgeißler einen besonderen,

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