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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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dem Himmelsherrscher erniedrigen wollen, dann werden sie es auch recht bald ablehnen, den Herrschern der Erde zu Füßen zu fallen. Eine neue Gesellschaft wird entstehen, deren Mitglieder stolz und selbstbewusst sind. Das ist das Ziel, dem ich mein ganzes Leben widme!«
    Walser wurde von seiner Erregung überwältigt. Seine Stimme wurde brüchig, über sein Gesicht strömten Tränen der Begeisterung.
    »Und was ist mit der Jungfrau Maria, der heiligen Fürsprecherin?«, fragte von Dorn leise. »Wenn es keinen Gott gibt, gibt es sie dann auch nicht? Sie kann für niemand bitten, weil sie vor zweitausend Jahren gestorben ist? Und ein ewiges Leben gibt es auch nicht? Nach unserem Tod wird nichts mehr sein? Absolut nichts? Aber weshalb leben wir dann?«
    »Um den Weg von der verständnislosen Leibesfrucht zum weisen und edlen Greis zu durchlaufen, der weiß, dass er sein Leben ganz gelebt und es bis zur Neige geleert hat«, sagte Walser so, dass man sah, er hatte darüber nachgedacht und eine Lösung gefunden. »Ich habe das ›Judasevangelium‹ gesucht, weil ich an die Kraft dieses Buches glaubte. Keiner, der es gelesen, nein, keiner, der auch nur einen Blick darein geworfen hat, konnte seinen Glauben an Gott bewahren, noch nicht einmal der Hauptinquisitor selbst. Ich habe einen Plan, für den ich Euch zu begeistern hoffe; ich brauche ja auch in Zukunft einen treuen und kühnen Helfer. Ich will mich in Amsterdam niederlassen, wo der Obskurantismus kein Ansehen genießt. Ich will eine Druckerei kaufen und das Buch herausgeben. Ich überschwemme ganz Europa damit. Ich versichere Euch, in zwei oder drei Jahren wird es einen Aufstand geben, dagegen war Luthers Ketzerei für das Christentum das reinste Kinderspiel. Wir beide werden einen riesigen Umschwung in den Köpfen und Seelen herbeiführen!«
    »Und dann wird wieder ein Religionskrieg anfangen, wie nach Luther?«, fragte Cornelius. »Die einen werden im Namen des Glaubens morden, die anderen im Namen des Verstandes? In unserer Familie erinnert man sich noch gut an die Reformation, sie hat die von Dorns gespalten, und die eine Hälfte der Familie hat die andere ausgemerzt. Nein, Herr Walser, man darf die Seelen nicht einer solchen Versuchung aussetzen.« Der Hauptmann sprach allmählich immer schneller und lauter. »Die Welt ist unvollendet und grausam, aber das ist sie auf natürliche Weise geworden, niemand hat sie dazu gezwungen oder gedrängt. Lasst doch alles kommen, wie es kommt. Wenn Ihr Recht habt und der Mensch Gott nicht braucht, dann sollen die Menschen doch von allein darauf kommen, ohne Euren Judas, der sowieso ein gemeiner Verräter ist und bleibt, egal von welchen Zielen er sich leiten ließ . . . Ich glaube allerdings, dass Gott immer gebraucht wird. Weil Gott die Hoffnung ist, und die Hoffnung ist stärker und heller als der Verstand. Und auch Jesus wird gebraucht werden! Es geht ja nicht darum, wer er in Wirklichkeit war, was er getan hat oder nicht. . . Ich kann Euch das nicht erklären, aber ich fühle und weiß: Es geht nicht ohne Jesus. Ihr seid ein gütiger und kluger Mann, warum versteht Ihr das denn nicht?« Von Dorn schüttelte resolut den Kopf. »Verzeiht mir, mein verehrter Freund, aber ich werde es nicht zulassen, dass Euer Plan in Erfüllung geht.«
    »Werde es nicht zulassen?«, fragte Walser mit zusammengekniffenen Augen. »Werde es nicht zulassen?«
    »Gebt mir den Samoley her. Ich . . . nein, ich werde ihn nicht vernichten; wenn dieses Buch schon so viele Jahrhunderte existiert, ist das Gottes Wille. Aber ich werde es in einem Versteck verschwinden lassen, das so geheim ist, dass es keiner ohne einen klaren Wink Gottes findet. Und versucht nicht, mich davon abzubringen, das hat keinen Zweck . . .« Cornelius sprach jetzt nicht mehr hitzig, sondern ruhig – von irgendwo war eine feste, unerschütterliche Sicherheit über ihn gekommen. »Ihr werdet an meinen Verstand appellieren, ich habe die Entscheidung aber mit dem Herzen getroffen.«
    Der Apotheker senkte den Kopf und schloss die Augen. Er schwieg. Cornelius wartete geduldig.
    Endlich, nach einer Viertelstunde, oder vielleicht dauerte das Schweigen auch länger, seufzte Walser schwer auf und sagte:
    »Tja, mein ehrlicher Freund. Vielleicht sollte man bei einer solchen Frage wirklich nicht dem Ruf des Verstandes, sondern der Stimme des Gefühls folgen. Ich bin betrübt und niedergeschmettert durch die Tatsache, dass ich selbst Euch, einen klugen und wohlwollenden Mann, nicht

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