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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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weil ich ihn von seinen Hämorriden geheilt hatte. Saventus war bald nach seiner Flucht aus Russland in die Folterkammer der Inquisition geraten, im Jahre 1565. Offenbar hatte sein Verstand von allem Erlebten eine leichte Trübung erfahren. Er war durch Europa gereist und hatte viel geschwatzt. Das führte zu einer Denunziation und zu Kerker, aus dem der Doktor nicht mehr herauskommen sollte.«
    »Wovon ist er denn verrückt geworden?«
    Diesmal überhörte Walser die Frage nicht.
    »Könnt Ihr Euch noch erinnern, lieber Cornelius, wie ich Euch gesagt habe, dass in einer Geheimtruhe der Kaiser von Konstantinopel frühchristliche häretische Bücher aufbewahrt wurden? Dieses hier ist eins von ihnen, das berühmteste, das über tausend Jahre keiner mehr gesehen hat, so dass es darüber nur dunkle Überlieferungen gibt.«
    »Ein häretisches Buch?«, maulte von Dorn enttäuscht und hörte auf, den Tisch zu fürchten. »Und das ist alles?!«
    »Wusstet Ihr«, sagte der Apotheker und sprach noch leiser, »dass es nicht vier, sondern fünf echte Evangelien gibt? Die fünfte Vita von Josephs Sohn stammt vom Apostel Judas. Jaja, genau, von dem berüchtigten.«
    »Hat er sich denn nicht kurz nach der Kreuzigung erhängt?«
    »Die Informationen über das Ende des Mannes, der den Messias dem Hohen Rat auslieferte, sind widersprüchlich. Die Evangelisten behaupten, er habe sich erhängt. In der ›Apostelgeschichte‹ steht, der Verräter sei auf ebener Erde ›gestürzt‹ und aus unerfindlichen Gründen ›mitten entzweigeborsten‹. Bei Papias von Hierapolis dagegen steht, Judas habe ein hohes Alter erreicht und sei an einer geheimnisvollen Krankheit gestorben: Sein Körper sei merkwürdig angeschwollen gewesen und habe einen unerträglichen Gestank ausgeströmt, so dass die Leute sich davor geekelt hätten, an den Siechen heranzutreten. Papias war ein Schüler des Apostels Johannes und Zeitgenosse von Judas. Man kann seinem Zeugnis trauen. Das heißt, Judas hat lange gelebt. Dieser Mann, der Christus gut kannte und ihn zu Grunde richtete, hat eine eingehende Biografie des so genannten Erlösers hinterlassen. Der fünfte Evangelist erklärt darin nicht nur, warum er Jesu Messianismus ein Ende setzte (na, bestimmt nicht wegen der dreißig Silberlinge), sondern er erzählt auch die ganze Wahrheit über den Nazarener, ohne Lüge und Schönfärberei. Bei den Urchristen wanderte dieses Manuskript von Hand zu Hand und brachte viele von dem neuen Glauben ab. Dann, als Kaiser Konstantin das Christentum zur Staatsreligion erklärte, verschwand das ›Judasevangelium‹ auf einmal. Jetzt wissen wir, was mit ihm geschah: Alle Abschriften wurden vernichtet, nur das Original kam in die geheime Bibliothek der Kaiser. Wer dieses Manuskript einsah, dem drohte der Verlust des Seelenheils, aber das alte Zeugnis zu vernichten, wagten die Kaiser auch nicht.«
    »Stehen da irgendwelche Gemeinheiten über den Erlöser drin?«, fragte von Dorn mit zusammengezogenen Brauen. »Na und? Wer schenkt denn schon den Lügenmärchen eines üblen Verräters Glauben?«
    »Lügenmärchen?«, fragte Walser und lachte höhnisch. »Im Protokoll von Saventus‘ Verhör gibt es einen Zusatz des Inquisitors: ›Dieses blasphemische Werk, genannt Judas-Evangelium, stammt ohne Zweifel von dem äußerst hinterlistigen Seelenfänger Satan höchstpersönlich, denn allein schon die Nacherzählung führt zu der unbändigen Versuchung, an der göttlichen Natur und der Güte unseres Herren Jesu zu zweifeln.‹ Ich hatte wenig Zeit, und der Text ist schwer zu lesen, aber schon auf den ersten vier Seiten habe ich über Jesus Dinge erfahren, die mir den Sinn all seiner Taten in einem völlig anderen Licht erscheinen lassen!« Dem Erzähler blieb vor Aufregung die Luft weg. »Schon wenn man der Welt nur diese vier Seiten zeigte, käme der ganze christliche Glaube ins Wanken! Und das Erstaunlichste ist, wenn man ins Heilige Land führe, so könnte es durchaus sein, dass man auch jetzt noch Beweise für die Glaubwürdigkeit dieses Evangelisten fände! Wisst Ihr, wer Jesus von Nazareth wirklich war und was er in den ersten dreißig Jahren seines Lebens gemacht hat?«
    »Das weiß ich nicht und will es auch nicht wissen!«, schrie von Dorn. »Das heißt, nein, ich weiß es und will nichts anderes wissen! Der Erlöser war der Sohn eines Zimmermanns und half seinem Vater, und dann machte er sich auf den Weg, um die Wahrheit zu verkünden. Und wehe, Ihr wagt es, etwas anderes zu

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