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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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behaupten!«
    Walser lachte bitter.
    »Eben, eben, genauso blind sind alle anderen Christen auch. Ihr zieht die Finsternis des Aberglaubens dem Licht der Wahrheit vor. Gut, gut, haltet Euch nicht die Ohren zu. Ich werde Euch nichts von Christus erzählen. Hört lieber, was ich über das Schicksal des Judasevangeliums in Moskowien in Erfahrung bringen konnte. Als Erster entdeckte Maxim Grek das schreckliche Buch, als er die Liberey für den Großfürsten Wassili durchsah und sortierte. Der Mönch stieß auf die ›Mathematik‹ des unbekannten Samoley, sah, dass der Titel Tarnung war und es sich in Wirklichkeit um einen blasphemischen Text über Jesus handelte. Er sagte das dem Herrscher; der erschrak, befahl, die ganze Liberey sofort wieder in ihr Versteck einzumauern, und verbot, den griechischen Gelehrten aus Russland herauszulassen. So kam es, dass Maxim seine Tage im schneereichen Moskau beschloss. Ein halbes Jahrhundert später beschäftigte sich der wissbegierige Iwan mit der Liberey. Er suchte lange nach Bücherfreunden und Übersetzern, fand aber immer nur welche, die nicht hinreichend gebildet waren. Schließlich traf er auf unseren Saventus. Der machte den Pseudo-Samoley recht schnell ausfindig und übersetzte dem Zaren die hebräischen Schriftzeichen direkt vom Blatt. Nach dem Protokoll der Mailänder Inquisition zu schließen, dauerte diese Lektüre nur zwölf Tage. Am dreizehnten hielt es Saventus, der nicht mehr schlafen konnte und keinen Geschmack mehr am Essen fand, nicht länger aus und floh. Beim Verhör sagte er aus, der russische Zar, früher fromm und strenggläubig, sei durch die Lektüre des Buches in seinem Glauben wankend geworden und habe gottlose Fragen gestellt. Was für welche, konnte ich nicht lesen; diese Zeilen, wie auch viele andere, waren dick mit Tinte übermalt. Am tiefsten hat mich eine Stelle beeindruckt, die ich wortwörtlich behalten habe. ›Das Evangelium ist mit solcher Kraft und Glaubwürdigkeit geschrieben, versicherte Saventus, ›dass selbst der Papst seinen Glauben verlöre und verstünde: Es gibt keinen Gott, die Menschen sind sich selbst überlassen.‹ Selbst der Papst!« Walser unterstrich seine Worte, indem er begeistert mit dem Zeigefinger hoch zum niedrigen Gewölbe wies, und fuhr fort: »Der Pastor floh also aus Moskau, und sein Verstand nahm Schaden, aber auch Zar Iwan hielt dem Anschlag auf seinen Glauben nicht stand. Bis dahin war er vernünftig, mäßig und gnädig gewesen, aber im Jahre 1565 ging mit ihm eine schreckliche Änderung vor sich, die der Grund dafür war, dass man ihm den Beinamen ›der Schreckliche‹ gab. Solche Brutalität, solche Blasphemie und Abscheulichkeit hatte dieses arme Land noch nie erlebt, noch nicht einmal in den Jahren, als die Tataren einfielen. Mal raste der wahnsinnige Monarch, als wolle er Gott versuchen, indem er ihm sagt: Ergötze dich doch an meinen Ausschweifungen und hindere mich, wenn DU existierst, mal packte ihn Entsetzen über seine Taten, und er fastete und zeigte Reue. Ich habe in einer Chronik gelesen, dass Iwan immer entweder ein schwarzes oder ein rotes oder ein weißes Gewand anhatte. Wenn er das rote trug, floss in Strömen Blut. In dem schwarzen brachte er ebenfalls den Tod, aber ohne Blutvergießen: durch Erwürgen oder Feuer. In dem weißen Gewand freute er sich des Lebens, doch so, dass diese Fröhlichkeit vielen schlimmer als eine Hinrichtung vorkam . . . Die Liberey aber sperrte der Zar in ein Bleiverlies, damit seine Nachfolger gegen dieses unheilvolle Wanken gefeit seien.«
    Cornelius hörte sich die unwahrscheinliche Geschichte mit angehaltenem Atem an; er blickte nur von Zeit zu Zeit auf das unheimliche Buch, das so viel angerichtet hatte. Gut, dass es in althebräischer Sprache verfasst war, die außer ein paar Neunmalklugen und den gottlosen Juden sowieso niemand lesen konnte.
    »Was Saventus betrifft«, fuhr Walser fort, »so war sein Schicksal traurig. Das Verhör fand im Geheimen statt, anwesend waren nur der Hauptinquisitor und ein Protokollführer. Die ganze Inhaltsangabe des ›Judasevangeliums‹ ist sorgfältig geschwärzt worden. Am Ende steht ein Zusatz, der von einer anderen Hand stammt: ›Nach Beendigung der Befragung, die sieben Nächte ohne Anwendung von Folter dauerte, denn der Ketzer Saventus sprach ohne Nötigung und ohne zu leugnen, wurde angeordnet, die Zelle mit Weihwasser zu besprengen; dem Besessenen eine lederne Birne in den Mund zu stopfen, damit er mit den

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