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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Gefängniswärtern keine aufwieglerischen Gespräche anfängt, und ihn nach Ende der heiligen Fastenzeit heimlich im Kerker zu erwürgen; den Schreiber Bruder Ambrosius am Leben zu lassen, ihm aber, damit er nichts weitererzählt, die Zunge und beide Hände abzuhacken und ihn danach für den Rest seines Lebens in ein fernes Kloster zu schicken.‹ Vermutlich wurde dieses Verdikt vom Hauptinquisitor verhängt, der auch diesen Zusatz schrieb. Weiter unten gibt es noch eine Notiz, wieder von einer anderen Hand geschrieben. Da heißt es kurz und ohne Kommentare: ›Am 13. Dezember hat sich der Hauptinquisitor Vater Hieronymus im Hof an einer Espe erhängte Na, wie gefällt Euch meine Erzählung, Herr Hauptmann?«
    Der Apotheker schaute von Dorn forschend an. Der war bleich, auf der Stirn standen ihm Schweißtropfen. Er zeigte mit zitterndem Finger auf den Samoley und sagte:
    »Was braucht Ihr so ein Schreckgespenst, das nur Unheil, nämlich Wahnsinn und Tod, über die Menschen bringt? Was habt Ihr davon? Soll es doch weitere anderthalbtausend Jahre in der Truhe schmoren!«
    »Nein, mein Freund, es ist jetzt an der Zeit! Vor hundert Jahren, zu Saventus5 Lebzeiten, war es noch zu früh, aber jetzt ist genau der richtige Moment«, sagte Walser zutiefst überzeugt. »Im sechzehnten Jahrhundert war der menschliche Verstand noch zu sehr in den Nebel der Unwissenheit gehüllt, der Mensch hatte sich noch nicht von den Knien erhoben. Unser aufgeklärtes Zeitalter hat große Entdeckungen gebracht: dass die Erde nicht das Zentrum des Alls ist, sondern nur einer von vielen Planeten, die sich um die Sonne drehen, oder dass . . .«
    »Das kann nicht sein!«, schrie der erschütterte Hauptmann. »Das sieht doch jeder, dass es die Sonne ist, die sich um die Erde dreht!«
    »Nicht immer kann man seinen Augen trauen«, sagte der Apotheker lächelnd, als hätte er es mit einem unverständigen Kind zu tun. »Euren Augen kommt die Erde zum Beispiel flach vor, sie ist aber rund wie ein Apfel.«
    Geschlagen von diesem Argument, ließ Cornelius den Kopf hängen. Sollte es etwa stimmen, dass die Erde nicht das Zentrum des Weltalls ist?
    »Und was für wunderbare Entdeckungen die Physik und die Chemie gemacht haben! Und die Medizin! Noch nie hat der Mensch so viel über sich selbst und die Natur gewusst. Endlich lernt der Verstand, furchtlos und selbstständig zu denken, er wächst aus den Kinderschuhen heraus. Der Mensch fühlt und begreift sich jetzt ganz anders. Der großartige Shakespeare, der freiheitsliebende Cervantes Saavedra, der kühne Spinoza, der wissbegierige John Donne und viele andere Denker haben der Menschheit die Möglichkeit gegeben, sich zu achten, stolz auf sich zu sein! Wir brauchen die Scheuklappen eines blinden, unvernünftigen Glaubens nicht mehr. Früher, in der finsteren, freudlosen Zeit, war die Religion notwendig, um durch die Angst vor Gott die animalischen Begierden und das Entsetzen vor dem Rätsel des Lebens bei unseren wilden Vorfahren in Schach zu halten. Heute aber sind die meisten Rätsel, die früher unfassbar schienen, von der Wissenschaft zufrieden stellend gelöst. Die Wissenschaftler würden auch zu allen anderen Geheimnissen der Natur vorstoßen, wenn ihr Verstand nicht durch den Aberglauben gefesselt wäre. Schluss, mein Freund, das Christentum hat ausgedient. Man muss sich davon losmachen, wie das herangewachsene Kind ein Kleid abwirft, das ihm zu eng geworden ist und sein Wachstum hemmt. Um sich vorwärts zu entwickeln, weiter und höher, braucht der Mensch von jetzt an nicht den Glauben an ein Wunder, sondern den Glauben an seine eigenen Kräfte, an seinen Verstand. Wenn die Menschen die Wahrheit über Christus und die Quellen seiner Lehre erfahren, wird es eine große Unstimmigkeit in den Köpfen geben, die sehr viel kreativer sein wird als zu Zeiten der Reformation. Denn jede Erschütterung, jede Zerstörung der Einigkeit wirkt sich auf die Gedankenarbeit positiv aus. Natürlich werden viele vor Angst zurückweichen, sich die Ohren zuhalten und die Augen verschließen. Aber es wird auch nicht wenige geben, welche die neue Wahrheit begierig aufsaugen. Und das werden die Besten sein! Wir stehen an der Schwelle des Goldenen Zeitalters! Wie sich Wissenschaft und Kunst weiterentwickeln werden, wie die Bildung zunehmen wird! Und die Hauptsache: Der Mensch wird aufhören, unterwürfig vor einem Höheren Wesen zu kriechen, das in Wirklichkeit gar nicht existiert. Wenn die Menschen sich aber nicht mehr vor

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