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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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verflucht, Ihr und Euer Buch!«
    »Auch ich habe Euch geliebt! Und ich liebe Euch auch jetzt noch!« Walser schritt hastig auf den Todgeweihten zu – man merkte, dass ihn die Worte des Hauptmanns zutiefst getroffen hatten. »Aber ich liebe das Menschengeschlecht mehr als mich selbst und Euch! Schade, dass Ihr sterbt, ohne zu verstehen . . .«
    Von Dorns linke Hand war noch nicht taub. Der halb gelähmte Musketier packte den Apotheker damit am Kragen, legte seine ganze Kraft, seinen ganzen Lebenshunger in die Bewegung und knallte den Kopf des Giftmischers mit einem Ruck gegen die Tischkante.
    Walser erschlaffte und sackte lautlos zusammen.
    »Schneller, schneller«, flüsterte Cornelius und brachte den Stuhl ins Schaukeln. Schließlich gelang es ihm, sich weit genug vom Tisch abzustoßen, um mitsamt dem Stuhl zu Boden zu fallen. Den Schmerz vom Aufprall spürte von Dorn nicht. Die Kälte strömte den Arm herunter, von der Schulter zum Ellbogen. Wenn er nur an Walsers Hosentasche herankäme, in der das Gegengift lag!
    Genau in dem Augenblick, als seine Finger das Glasfläschchen berührten, fühlte er plötzlich, wie sein Handgelenk langsam abstarb.
    Cornelius hatte Mühe, den Unterarm zu beugen, um das Fläschchen an seine Lippen zu führen. Wenn die Finger erschlafften, wäre endgültig Schluss: aus.
    Den Glasstöpsel zog er mit den Zähnen heraus. Er kippte sich den Rest des lila Extrakts in den Mund, bis zum allerletzten Tropfen, und fiel kraftlos auf den Rücken.
    Ob es nicht zu spät war?
    Zuerst schien es, als wäre es zu spät: Er wollte den Speichel herunterschlucken und merkte, es ging nicht. Also verweigerte auch schon die Kehle den Gehorsam.
    »Wenn ich es wenigstens schaffte, ein Gebet zu sprechen, bevor die Lippen und die Zunge versagen«, dachte Cornelius und spürte im selben Moment auf einmal ein Brennen in seiner rechten Schulter, das heißt, in der, mit der er, als er fiel, auf den Boden geprallt war.
    Von Dorn hätte es nie für möglich gehalten, dass der Schmerz ein solches Frohlocken in der Seele hervorrufen könnte. Das Elixier wirkte!
    Und es wirkte schnell: Zuerst ließen sich die Hände bewegen, dann konnte er sich aufsetzen, und ein paar Minuten später stand der Hauptmann schon, leicht schwankend, wieder auf seinen Beinen.
    Nachdem er der Jungfrau Maria und ihrem Heiligen Sohn für das Wunder seiner Rettung gedankt hatte, zog Cornelius den reglosen Walser unter dem Tisch hervor.
    Was sollte er mit diesem Wahnsinnigen machen? Ihn töten? Er hatte den Tod verdient, aber von Dorn wusste, dass er den Verräter nicht kaltblütig würde umbringen können. Wenn man einen Feind in einem hitzigen Nahkampf erledigt, ist das etwas anderes, als wenn man einen schwachen, wehrlosen Menschen tötet, so etwas tut ein Ritter nicht.
    Ihm den Samoley abnehmen und ihn laufen lassen! Aber dieser harmlos wirkende Alte war gefährlich. Er hatte genug in dem schrecklichen Buch gelesen, um den giftigen Samen in der ganzen Welt verbreiten zu können.
    Von dem Schlag gegen die Tischkante hatte sich an der Schläfe des Liegenden eine Beule gebildet, die so schnell blau und rot wurde, dass man Zusehen konnte. Cornelius tastete die Stelle mit einem Finger ab und zuckte zusammen, als er unter der dünnen Haut die spitze Kante eines gebrochenen Knochens fühlte. Er zog Walsers runzliges Augenlid hoch und bekreuzigte sich. Es stellte sich heraus, dass der Herrgott Walsers Schicksal schon entschieden hatte. Der Aufklärer der Menschheit war tot.
    Oben in der guten Stube schlug die Uhr – durch die geöffnete Luke hörte man einen ersten, zweiten und dritten Schlag.
    Drei Uhr nachts. Er musste die Kompanie zum Kreml führen!
    Von Dorn lief im Keller hin und her und zog mal die Bücher aus der Truhe, mal legte er sie wieder zurück. Er hatte keine Zeit, den Schatz an einen anderen Ort zu bringen. Und wozu auch? Was war an diesem ausgeklügelten Versteck denn schlecht? Ob Matfejews Plan aufginge, war ja noch nicht klar. Den jüngeren Bruder zum Zaren ausrufen, obwohl der eigentliche Thronfolger am Leben war, das klang nach Hochverrat. Artamon Sergejewitsch war natürlich klug und weitsichtig, aber es war doch vernünftiger, die Liberey erst mal hier zu lassen.
    Der Hauptmann schloss den Deckel des Altyn-Tolobas, streute etwas Erde darüber und stampfte sie fest. Den Samoley hatte er vergessen!
    Das scheußliche Buch lag immer noch verführerisch aufgeschlagen auf dem Tisch. Cornelius warf es angeekelt zu und kniff die Augen

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