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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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erzitterte vor der Entschlossenheit des Paladins, öffnete sich und ließ ihn durch.
    Man könnte das Vorgefallene auch anders erklären, nicht mystisch, sondern wissenschaftlich. Professor Rosenbaum, Spezialist für kolloquiale Linguistik, schärfte seinen Studenten immer wieder ein, die genaue Kenntnis der Idiomatik und die strikte Einhaltung der jeweiligen Sprachregeln, die je nach Alltagssituation, sozialem Status und Verhaltenskodex des jeweiligen konkreten Soziums variieren, könnten Wunder wirken. Wirklich, die Linguistik ist unbestreitbar die Königin unter den geisteswissenschaftlichen Disziplinen, und was lexikalischen Reichtum und stilistische Nuancen betrifft, so hat die russische Sprache nicht ihresgleichen. »Du allein bist meine Stütze und mein Halt, du große, mächtige, wahrhaftige und freie russische Sprache!«, so dachte Nicholas, als er in sein Abteil zurückkehrte, und fügte diesem berühmten Zitat eines nicht ganz so berühmten russischen Klassikers begeistert dessen Schlusszeile hinzu: »Undenkbar, dass eine solche Sprache nicht einem großen Volke gegeben sein sollte.«
    ***
    Das Gebäude des Archivs, dieses Allerheiligste des politischen und kulturellen Gedächtnisses des russischen Staatswesens, betrat Nicholas mit andächtigem Zittern – es verschlug ihm den Atem, wenn er daran dachte, was für Schätze diese grauen Mauern mit den blinden schlitzförmigen Fenstern bargen. Und irgendwo hier in greifbarer Nähe musste jetzt das graue Blatt liegen, auf das Cornelius von Dorn mit Engelsgeduld die Buchstaben einer fremden, frisch erlernten Sprache gepinselt hatte.
    Nachdem er eine halbe Stunde Schlange gestanden hatte, um einen Ausweis zu bekommen, und der Aktenkoffer des Besuchers von einem Milizposten in schusssicherer Weste und mit MG einer genauen Inspektion unterzogen worden war, betrat Fandorin endlich die Räumlichkeiten des Zentralarchivs für alte Dokumente. Um dorthin zu gelangen, musste er über einen gemütlichen schattigen Hof laufen und sich dann zwischen gestapelten Ziegelsteinen, Fässern mit Farbe und riesigen Kabelrollen hindurchwinden – das Gebäude wurde renoviert.
    Die Renovierung hätte man vor fünfzig Jahren vornehmen müssen – das wurde Nicholas klar, als er die breite Treppe hochging, die früher einmal majestätisch gewesen sein musste, jetzt aber schrecklich heruntergekommen war: Die Marmorstufen waren ausgetreten, der Lack am Geländer war abgeblättert, und von den Statuen und Spiegeln, die früher die Treppe geschmückt hatten, waren nur leere Nischen und verwaiste Sockel übrig geblieben.
    Unübersehbar litt das Archiv an der schlimmsten Krankheit, die eine wissenschaftliche Institution befallen kann: an katastrophaler Unterfinanzierung oder völliger Einstellung der Mittel. Mitfühlend betrachtete Fandorin die rissigen Katalogkästen, die von Motten zerfressenen Vorhänge an den hohen Fenstern, das löcherige Linoleum und seufzte. Sir Alexander hatte nicht umsonst gesagt, das Leben der neuen Russen wäre weitaus erträglicher gewesen – und wäre es auch heute –, wenn sie Respekt vor der Vergangenheit ihres Landes hätten. Und diese Vergangenheit nistete eben hier, in diesen alten Mauern – die für den Geruch der Zeit empfängliche Nase des Magisters der Geschichte hatte sofort das Authentische dieses magischen Dufts gewittert.
    Sogar im Zimmer des Direktors war die Einrichtung abgenutzt und unansehnlich.
    Stanislaw Kondratjewitsch Werschinin, ein weltweit bekannter Spezialist für das Mittelalter, empfing den britischen Kollegen äußerst entgegenkommend.
    »Na klar, na klar erinnere ich mich an Ihre Anfrage, Mister Fandorin«, sagte er und ließ den Gast in einem unglaublich abgeschabten Ledersessel Platz nehmen. »Es geht doch um die Dokumentenhälfte, die in Kimry gefunden wurde, oder?«
    »Nein, in Infernograd«, stellte Fandorin richtig und betrachtete ehrfürchtig die Sokrates-Glatze des berühmten Mediävisten, der den Kommentar zur im 16. oder 17. Jahrhundert verfassten »Wytschegodsky-Chronik« geschrieben hatte.
    »Ach so, ja, in Infernograd. Im Unterbau des Stammsitzes der Grafen Matfejew, stimmt.«
    Der Direktor griff zum Hörer des schwarzen Telefons (einen solchen Apparat würde man in London nur in einem Antiquitätengeschäft auftreiben können) und drehte die Scheibe.
    »Maxim Eduardowitsch, mein Lieber, ob Sie bitte zu mir kommen könnten?«, fragte Werschinin und lächelte seinem unsichtbaren Gesprächspartner dabei freundlich zu.

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