Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
mitgebracht? Darf ich mal einen Blick darauf werfen?«
    Vorsichtig holte Nicholas einen schmalen Umschlag aus dem Aktenkoffer und entnahm ihm ein dickes, an den Rändern unregelmäßiges, in der Mitte durchgeschnittenes Blatt.
    Maxim Eduardowitsch zog konzentriert seine Augenbrauen zusammen und ließ seinen Blick darüber wandern.
    »Jetzt erinnere ich mich wieder genau. Eine schreckliche Handschrift, ich habe eine ganz schöne Arbeit damit gehabt.«
    »Was denken Sie, wie es mir erst ergangen ist! Ich bin ja noch nicht einmal Paläograf!«, ereiferte sich Nicholas.
    »Meinen Sie denn, Sie werden alleine zurechtkommen?«, fragte Bolotnikow und schaute ihn zweifelnd an. »Oder muss ich helfen?«
    »Da ist er, der wahre russische Charakter«, dachte Fandorin. »Äußerlich ein unfreundlicher, abweisender, um nicht zu sagen unsympathischer Mann, doch was für eine Hilfsbereitschaft. Er bietet seine Dienste gleichsam widerstrebend an, aber man sieht sofort, wenn man ihn bittet, wird er nicht Nein sagen.«
    »Danke, ich komme schon alleine klar. Ich habe jetzt das Programm ›Scribemaster‹, da brauche ich nichts selber zu machen.«
    »Was haben Sie?«
    Da weihte Nicholas ihn in sein tolles kryptografisches Programm ein, das eigens für die Entzifferung mittelalterlicher Handschriften entwickelt worden war. Bolotnikow hörte zu und nickte beeindruckt mit dem Kopf.
    »Ihr aus dem Westen kriegt aber auch alles geboten, ohne einen Finger krumm zu machen. Gut, setzen Sie sich hin und warten Sie. Vierzig Minuten werde ich schon brauchen, vielleicht auch eine Stunde.«
    Und Fandorin blieb alleine zurück. Er setzte sich auf den Stuhl, sprang aber schon nach einer Sekunde wieder auf und tigerte in dem kleinen Büro hin und her.
    Du lieber Gott, ob er in vierzig Minuten oder einer Stunde wirklich den vollständigen Text des Testaments des Ahnherren der russischen Fandorins in den Händen halten würde?
    Ein großer, wahrhaft großer Augenblick!
    ***
    Es verstrichen nicht vierzig Minuten und auch nicht eine Stunde, sondern geschlagene zwei Stunden, bis Bolotnikow zurückkam. In der Hand hatte er eine dünne Mappe, bei deren Anblick Nicholas noch röter wurde. Von der großen Menge alter staubiger Bücher, mit denen die Regale im Büro des wichtigsten Spezialisten voll gestopft waren, hatte der arme Magister einen Anfall seiner notorischen Allergie bekommen: Auf den Wangen zeichneten sich riesige scharlachrote Flecken ab, die Augen tränten, und die Nase hatte sich in einen artesischen Brunnen verwandelt.
    »Ist es nie nichtige«, näselte Fandorin, womit er meinte: »Ist es die richtige?«
    »Diese Mitarbeiter«, knurrte Maxim Eduardowitsch wütend, als er die Mappe auf den Tisch legte. »Haben sie in ein anderes Regal gestellt, ich habe sie nur mit Mühe finden können. Unterschreiben Sie hier.«
    »Sofort. . .«
    Nicholas lächelte und machte dabei ein schuldbewusstes Gesicht – vor Aufregung war seine Unterschrift auf dem Leihschein krumm und schief geraten.
    »Vorwärts, Sir«, drängte Bolotnikow. »Große Entdeckungen warten auf Sie. Fügen Sie Ihre Hälften zusammen. Ich will nur gucken, ob sie zusammenpassen, dann mache ich mich sofort auf die Socken.«
    Fandorin betrachtete die unscheinbare graue Mappe mit dem aufgeklebten Etikett »Archivnr. 4274, Versteck von Infernograd, ca. 1680er Jahre, Aufbewahrungseinheit 1, Inventarliste 12« und traute sich immer noch nicht, die Bänder, mit denen die Mappe verschlossen war, zu lösen. Woher stammte doch noch die Zeile: »Und den Gürtel der Liebsten im Schlafgemach sehnsuchtsvoll lösen?« Wie seine Finger zitterten – pass bloß auf, dass du um Himmels willen nicht das brüchige Papier zerreißt!
    Er musste sich zusammennehmen. Das war genau der richtige Moment, um einen leichtsinnigen Limerick zu verfassen.
    »Was ist denn mit Ihnen los?«, fragte Bolotnikow ungehalten. »Ich habe sowieso schon genug Zeit verloren. Lassen Sie mich mal.«
    Er schob den vor sich hin murmelnden Briten mit der Schulter beiseite, zog an dem Bändchen und entnahm der Mappe vorsichtig ein schmales Blatt.
    »Wo ist Ihre Hälfte? Geben Sie her.«
    Er legte beide Fragmente auf den Tisch, und sofort war klar, dass sie zusammengehörten. Zwar war das Papier der rechten Hälfte kein bisschen vergilbt, und die Buchstaben waren sehr viel weniger verblichen, aber das lag daran, dass das Dokument dreihundert Jahre in völligem Dunkel gelegen und sich folglich besser erhalten hatte. Der Zustand war

Weitere Kostenlose Bücher