Die Bibliothek des Zaren
»Ich habe den englischen Wissenschaftler Mister Fandorin bei mir . . . ja, ja, es geht um den Fund von Infernograd. Können Sie sich noch erinnern, Sie haben damals die Anfrage beantwortet. . . Ja, wunderbar.«
Als er den Hörer aufgelegt hatte, erklärte er:
»Maxim Eduardowitsch Bolotnikow ist unser wichtigster Spezialist aus der Sachbearbeitungs-Abteilung. Jeder Neuzugang des Archivs läuft über ihn. Er ist ein hervorragender Paläograf und ein begnadeter Kenner des siebzehnten Jahrhunderts. Er ist blutjung, hat aber schon vier Monografien veröffentlicht und seine Doktorarbeit verteidigt, die dem Pseudodemetrius, der Polin Maryna Mniszech und dem aus der Verbindung der beiden hervorgegangenen kleinen Worjonok gewidmet ist. Stellen Sie sich vor«, Stanislaw Kondratjewitsch hob den Zeigefinger, bevor er weitersprach, »man hat ihn nach Stanford eingeladen, ihm ein Riesengehalt angeboten – aber er hat abgelehnt. Ein Patriot! Das ist jetzt eine Seltenheit bei uns. Er glaubt an Russland. Ein aufgehender Stern, das können Sie mir glauben. Der Mozart unseres Archivs.«
Der Mozart des Archivs hatte es nicht besonders eilig, dem Ruf seines Chefs Folge zu leisten, und um die Pause zu überbrücken, brachte der Direktor das Gespräch auf die miserable Situation seiner Institution – er hatte offenbar bemerkt, dass der Ausländer die schiefen Regale und den abgewetzten Teppich beäugte.
». . . Im letzten Quartal gab’s keine einzige Kopeke«, war der Auftakt zu Werschinins endlosem Klagelied. »Das Gehalt eines leitenden wissenschaftlichen Angestellten beläuft sich auf zweihundertfünfzigtausend, und selbst die zahlen sie nicht pünktlich! Fünf Mikrofilmgeräte sind kaputt, für eine Reparatur haben wir kein Geld. Wenn das Kopiergerät streikt, ist das eine Tragödie. Aber wozu vom Kopiergerät reden, wir haben noch nicht einmal das Geld für die Putzfrauen. Und Putzfrauen, wissen Sie, die sind nicht wie wir Historiker, die denken nicht daran, ohne Bezahlung zu arbeiten. Es ist eine Schande, wie viel Staub sich angesammelt hat. Ich will Ihnen einen guten Rat geben, mein Lieber. Machen Sie sich nicht so fein, wenn Sie zu uns kommen, mit Krawatte und so. Lassen Sie Ihr Jackett und die Manschetten zu Hause. Windjacke und Jeans, das ist genau richtig.«
Nicholas war erstaunt, dass der Archivdirektor einem ihm kaum bekannten Mann einen Rat gab, und dann auch noch zu einer so intimen Frage wie dem Kleidungsstil. Der Magister dachte ein wenig nach und beschloss dann, das zwar etwas direkt, aber ungemein russisch und irgendwie richtig sympathisch zu finden.
»So ist meine Situation also, aussichtsloser als die eines Gouverneurs«, sagte Werschinin und unterstrich seine Ratlosigkeit, indem er entwaffnend die Hände hob. »Ohne Geld zu arbeiten, ist sehr, sehr schwer. Aber was soll man machen? Der Staat hat kein Geld. Was würden Sie denn an meiner Stelle tun?«
Nicholas war gerührt und tat sich keinen Zwang an. Schließlich hatte Werschinin ihm zuerst einen Rat gegeben und ihn dann auch noch gefragt. Da musste man einfach helfen.
»An Ihrer Stelle, Herr Direktor, würde ich Folgendes tun«, begann Fandorin, der sich doch ein wenig genierte. »Erstens verstehe ich nicht, warum das Archiv die Wissenschaftler, die diese einzigartigen Bestände nutzen, nicht dafür zahlen lässt. Statt den Zugang zu Ihren Lesesälen wie bislang einzuschränken, indem Sie interessierte Laien ausschließen und nur reine Spezialisten willkommen heißen, könnten Sie Ihre Pforten allen, die es wünschen, öffnen, dafür aber eine kleine Nutzungsgebühr erheben. Ich würde mit Vergnügen für die Ehre zahlen, in Ihrem Lesesaal arbeiten zu dürfen. Und zweitens bin ich überzeugt davon, dass viele meiner Kollegen auch größere Summen zu zahlen bereit wären, wenn das Personal des Archivs Rechercheaufträge für Privatpersonen übernähme. Angenommen, ich muss ein bestimmtes Dokument, das ich brauche, einscannen und außerdem zu einem ganz speziellen Thema die Schriften der Ausländer-, der Reiter-sowie einiger anderer Behörden studieren. Für diese Arbeit würde ich eine Woche benötigen, und außerdem würde ich nicht wenig Geld für Fahrkarten, Hotel usw. ausgeben müssen. Glauben Sie mir, ich würde mit Vergnügen ein – oder sogar zweitausend Pfund zahlen, wenn jemand Ihrer hervorragenden Spezialisten mir diese Aufgabe abnähme . . .«
»Doch, eine ausgezeichnete Idee«, reagierte der Direktor lebhaft. »Natürlich werden jede Menge
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