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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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und hatte in der linken Hand einen teuren Aktenkoffer. Dass es sich um einen Ausländer handelte, ging aus dem strahlenden Lächeln der weißen Zähne und dem geöffneten Reiseführer hervor, den sich der Tourist in die rechte Hand geklemmt hatte. Aber es war ohnehin klar, dass der junge Mann nicht zu den Einheimischen gehörte – in Moskau trifft man selten einen erwachsenen Mann soignierten Aussehens auf Rollschuhen. Der Scheitel, der die Frisur in zwei gleiche Hälften teilte, war vom Gegenwind etwas in Unordnung geraten, die glatten hellen Haare waren zerzaust, aber all das hielt sich in Grenzen: zwei, drei Mal mit dem Kamm darüber gehen, und das anständige Aussehen wäre wiederhergestellt.
    Die Rollschuhe waren nicht solche, wie man sie im Laden kaufen konnte, sondern etwas ganz Besonderes, eine Sonderanfertigung für 399 Pfund Sterling. Es waren eigentlich gar keine Rollschuhe, sondern Schuhe auf einer porösen, fünf Zentimeter dicken Plateausohle, in der sehr stabile und wendige Räder aus Titan versteckt waren. Wenn es Nicholas in den Sinn kam, den maßvollen Schritt gegen ein schwereloses Gleiten einzutauschen, hockte er sich hin, drehte die kleinen Hebel hinten an den Wunderschuhen, und flugs wuchsen ihm wie dem Gott Hermes an den Füßen kleine Flügel. In seiner Heimatstadt benutzte Fandorin selten ein Auto oder die öffentlichen Verkehrsmittel – die wunderbaren Schuhe brachten ihn in wenigen Minuten an jeden Punkt der Londoner City. Er musste weder Angst vor Staus noch vor dem Gedrängel in der U-Bahn haben. Und auch der Gesundheit tat es gut.
    In Moskau, wo der Besucher über die Zahl der Autos und die Rücksichtslosigkeit der Fahrer staunte, hatte es keinen Sinn, sich mit dem Auto fortzubewegen – die Fahrt mit dem Taxi zum Archiv hätte entschieden länger gedauert und wäre wohl kaum so angenehm gewesen. »Es ist mir ein Rätsel«, dachte der Magister, »wie kann man nur in einer Großstadt mit einer Einwohnerzahl von zehn Millionen ohne Autobahnen auf zwei Ebenen auskommen?«
    Nicholas hatte viel Interessantes über die Moskauer U-Bahn gelesen, deren Bahnhöfe aus irgendeinem Grund wie pompöse Paläste gebaut waren, aber es wäre doch absurd, die Bekanntschaft mit einer Stadt, von der er so viel gehört und gelesen hatte, mit dem Untergrund beginnen zu lassen.
    Als er aus dem Hotel trat (ein hässlicher Glasklotz, der das Aussehen der Twerskaja-Uliza unglaublich verschandelte, und auch die Zimmer waren schlechter als in dem schlichtesten »Bed and Breakfast«-Quartier), schaute Nicholas flüchtig zur roten Kremlmauer (später, das kommt später) und schlug, sich an der Karte orientierend, die südwestliche Richtung ein. Er stürmte die Mochowaja-Uliza entlang, erst an der alten Universität vorbei, wo mindestens vier Fandorins studiert hatten, dann an der neuen Universität, wo sich der Opritschny Dwor, eine der Residenzen Iwans des Schrecklichen, befunden hatte. Er reckte den Kopf und schaute auf die steinerne Tabaksdose des Paschkow-Palastes – vor anderthalb Jahrhunderten hatte hier das Knabengymnasium Nr. 4 gestanden, wo der Urgroßvater Pjotr Issaakijewitsch sein Abitur gemacht hatte.
    Gegenüber der wieder errichteten Christus-Erlöser-Kirche (Sir Alexander hatte immer gesagt, durch seine Unverhältnismäßigkeit habe dieser gigantische Wasserkopf das Gesicht Moskaus verunstaltet, und die einzige segensreiche Tat der neuen Russen sei die Sprengung dieses Ungetüms gewesen) hielt der Magister an und kam zu dem Ergebnis, die Kathedrale gefiele ihm – die Häuser in der Stadt waren im zwanzigsten Jahrhundert in die Höhe geschossen, so dass der gewaltige Goldhelm jetzt nicht mehr wie ein Fremdkörper wirkte.
    Dazu muss man sagen, dass Fandorin in Hochstimmung war, ihm gefiel heute einfach alles: das freundliche Wetter, das laute Atmen dieser ehrwürdigen Stadt und sogar die mürrischen Gesichter der Moskauer, die den rasenden Rollschuhläufer tadelnd anblickten.
    Sein Herz tönte und bebte in der Vorahnung eines Wunders. Im Aktenkoffer lag die linke Hälfte des wertvollen Schriftstücks, das sich gleich mit dem fehlenden Teil vereinigen sollte, der auf ewig verloren schien. Und diese Ewigkeit von drei Jahrhunderten sollte nun ein Ende haben. Nicholas hatte heute einen doppelten Festtag: als Historiker und als Letzter aus dem Geschlecht der Fandorins.
    Ein zauberhafter Tag, ein wirklich zauberhafter Tag!
    An die gestrigen Ereignisse erinnerte er sich wie an ein ärgerliches

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