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Die Bibliothek des Zaren

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Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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eindeutiger Verletzung der Menschenrechte und der Dienstordnung durchsuchte er das Abteil und die jungen Männer, aber außer zwei Dörrfischen, einer Packung LM, gesalzenen Sonnenblumenkernen und ein paar Kleinigkeiten konnte er nichts finden.
    »Und, was nun?«, fragte Walja im Gang. »Sollen wir weitersuchen oder was?«
    »Ich hab s!«, brach es aus Nicholas heraus. »Die machen gemeinsame Sache mit dem Schaffner meines Wagens! Deshalb sind die Sachen bestimmt bei ihm! In Pskow übergibt er ihnen dann die gestohlenen Sachen, und sie steigen aus.«
    »Nein«, schnitt ihm der Milizionär das Wort ab, »den Schaffner kann ich nicht filzen, das kommt mich zu teuer zu stehen.« Und nach einer kleinen Pause setzte er hinzu: »Ohne Durchsuchungsbefehl geht das nicht. Machen Sie Folgendes, Mister: Formulieren Sie einen Antrag, und bringen Sie ihn mir in den dritten Wagen. Bis dann.«
    Und kochend vor ohnmächtiger Wut, blieb Nicholas allein.
    Die Zeit, sie drängte! Bis zum Halt in Pskow war es nur noch eine Viertelstunde. Man hätte sich natürlich am Ausstieg postieren und versuchen können, den gemeinen Schaffner in flagranti zu erwischen – in dem Augenblick, in dem er seinen Kumpanen die Beute aushändigte. Aber was, wenn sie es anders geplant hatten? Wenn er die Sachen durch das geöffnete Fenster jemandem reichte, der schon auf dem Bahnsteig wartete, dann würde Nicholas vergebens im Vorraum lauern.
    »Los, denk nach, denk schneller«, befahl sich der Magister. »Wenn dir Cornelius‘ Brief entwischt, siehst du ihn nie wieder. Das wirst du dir nie verzeihen.«
    Er dachte fünf Minuten nach, da kam ihm eine Idee.
    Weitere fünf Minuten brauchte er, um sein Notizbuch durchzublättern und einige unter der Rubrik »Marginale Lexik« aufgeführte Jargonausdrücke auswendig zu lernen.
    Als sich die gelben Lichter im Fenster häuften und damit klar wurde, dass der Zug sich einer Großstadt näherte, riss Fandorin, ohne zu klopfen, die Tür des Dienstabteils auf, trat ein und beugte sich über den sitzenden Schaffner.
    »Na, Mister, hast du deinen Kram gefunden? Stell alles auf den Kopf. Vielleicht hast du die Sachen selber irgendwohin gelegt und das vergessen. Das kommt vor, wenn man das da tut.« Der unverschämte Kerl schnippte sich mit den Fingern an den Hals, was meinte, er habe wohl einen zu viel gehoben, und lächelte gelassen, anscheinend völlig sicher, dass ihn keiner bestrafen kann. »Verlassen Sie das Abteil, Bürger. Wir fahren in einen Bahnhof ein. Go, go, dawaj!«
    Nicholas legte dem abstoßenden Mann die Hand auf die Schulter, drückte ihm kräftig seine Finger in den Körper und sagte gedehnt:
    »Dir ist wohl die Pisse zu Kopf gestiegen, du miese Filzlaus! Einen Profi willst du ausnehmen? Na, du musst ja vom Leben die Schnauze wirklich verdammt voll haben!«
    Der Effekt, den diese Worte erzielten, war in gewisser Weise vergleichbar mit der Reaktion von Mister Kalinkins, als der Engländer losgelegt und das Lied von der Heimat auf Russisch gesungen hatte, nur war die Wirkung zwanzig Mal so stark. Nicholas hatte noch nie gesehen, dass jemand schlagartig kreidebleich wird – er hatte immer gedacht, diese Redewendung sei rein metaphorisch gemeint, aber der Schaffner war wirklich auf einmal richtig weiß geworden, sogar die Lippen hatten einen hellgrauen Anstrich bekommen, und die Augen zuckten hektisch.
    »Kumpel, Kumpel . . .«, brachte er mühsam über die Lippen und wollte aufstehen, aber Fandorin drückte noch stärker mit seinen Fingern zu. »Das wusste ich doch nicht . . . Ehrlich! Ich dachte, so ein Trottel aus Übersee. Kumpel!«
    Da kamen Nicholas noch ein paar passende Ausdrücke aus dem Notizbuch in den Sinn, und er brachte sie gezielt an den Mann:
    »Was für Kumpel, bitte? Vielleicht die Bullen, du kleiner Schleimscheißer?«
    Es war richtig, keinen falschen Ton aufkommen zu lassen, kein falsches Wort zu gebrauchen, deshalb sagte Nicholas weiter nichts – und hielt dem Übeltäter einfach die flache Hand vor die Nase (während die andere Hand weiterhin auf seiner Schulter steckte).
    »Na?«
    »Moment, Moment«, stöhnte der Schaffner und machte sich hektisch unter der Matratze zu schaffen. »Es ist alles da, in einwandfreiem Zustand . . .«
    Er rückte alles raus, alles, was aus dem Aktenkoffer entwendet worden war: Ausweispapiere, Portemonnaie, Notebook und die Hauptsache: den kostbaren Umschlag. Und er gab auch gleich den Inhalt von Mister Kalinkins Brieftasche zurück.
    Der verhexte Wald

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