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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Töchter, und weitere sechs Prinzen und Prinzessinnen hatte der Herrgott im Säuglings – und Jugendalter zu sich genommen.
    Von den Kindern des Zaren gefiel Cornelius die achtzehnjährige Sofja Alexejewna am besten. Anders als die anderen Zarentöchter spähte sie nicht heimlich durchs Schlüsselloch oder durchs Gitter, wenn es Zechgelage oder Empfänge gab, sondern sie war kühn, hatte einen neugierigen und klaren Blick und äußerte sich geradeheraus, ohne sich zu schämen. Wenn er die Wachen des Steinpalastes kontrollierte, wo die Zimmer der Zarentöchter lagen, hatte der Hauptmann mehrmals gesehen, wie Sofja am Fenster stand und nicht zu Boden blickte, wie es sich für ein gut erzogenes russisches Mädchen gehörte, sondern nach oben, in den Himmel; sie hatte rosa Flecken auf den Wangen, und ihr Blick war verschleiert. Er hatte sie auch im Garten mit einem Buch gesehen, und das war erst recht verwunderlich. Und einmal, als von Dorn in der Galerie des Lustschlosses Dienst tat, war die Prinzessin plötzlich auf ihn zugekommen und hatte ihn auf Französisch angeredet; sie hatte gefragt, ob er von den Komödien des Pariser Dichters Moliere gehört habe und ihr in der deutschen Vorstadt ein beliebiges Werk von ihm besorgen könne. Cornelius kannte Moliere nicht, versprach aber, im Buchgeschäft von Bromelius nachzufragen; er erfüllte die Bitte Ihrer Hoheit und brachte ihr, etwas verwirrt über den frivolen Inhalt, das Stück mit dem Titel »George Dandin ou le mari confondu«. Als Belohnung bekam er einen Ring mit einem Edelstein, der zehn Mal so viel wert war wie das Buch.
    Wenn Sofja nur ein wenig anmutiger gewesen wäre, hätte Cornelius sich bestimmt zu unmöglichen Träumen hinreißen lassen, aber erstens hatte er zu diesem Zeitpunkt schon jemand, von dem er insgeheim träumen konnte, und zweitens war die Zarentochter nicht hübsch: Sie war breit in den Knochen, hatte ein schweres Kinn und fahle Haut. Warum sollte eine Zarentochter auch schön sein? Es stand ihr ja sowieso nur ein Weg offen: das Kloster. Russische Prinzessinnen verheiratete man nicht mit ausländischen Herrschern, um den orthodoxen Glauben nicht zu besudeln; und einheimische Würdenträger kamen auch nicht in Frage, denn es wäre eine Schande, wenn sich die Tochter eines Zaren zu einem Knecht ins Bett legte.
    Wenn Sofja in England gelebt hätte, so hätte sie eine große Monarchin werden können, nicht schlechter als die rothaarige Elisabeth. So aber würde der Thron dem kränklichen Fjodor Alexejewitsch oder seinem minderbemittelten Bruder Iwan zufallen. Beide waren träge, schwach und unfähig. Der Zar hatte noch einen weiteren Sohn, den kleinen Pjotr Alexejewitsch von der neuen Zarin Natalja, aber im Vergleich zu seinen großen Brüdern war er zu jung für den Thron. Dabei war gerade dieser Pjotr flink und munter – ständig rannten die Ammen und Wärterinnen im ganzen Palast hinter ihm her. Einmal setzte sich dieser Wildfang neben Cornelius auf den Boden und wollte ihm doch tatsächlich das Sporenrädchen von seinen Reitstiefeln abschrauben. Er schnaufte, mühte sich ab und war nicht zu bändigen. Als der Hauptmann ihn leise anzischte, hob der Prinz seine runden frechen Augen und drehte noch wilder an dem Rad. Wenn er es abschraubte, wäre das ein Verstoß gegen die vorschriftsmäßig zu tragende Uniform. Da schaute sich von Dorn nach allen Seiten um (es war niemand in der Nähe) und bedeutete dem lockigen Schelm mit einer Kopfnuss: he, übertreib nicht. Und siehe da, obwohl der Zarensohn erst drei Jahre alt war, fing er nicht an zu brüllen. Er fuhr sich mit dem Brokatärmel über die Nase, betrachtete forschend den imposanten Onkel in dem funkelnden eisernen Kürass und hörte Gott sei Dank auf: Er lief nach Hause, in den Trakt der Naryschkins.
    Zu diesem Zeitpunkt hatte Cornelius sich schon von der großen Moskauer Politik einen Begriff gemacht und wusste, dass zwei höfische Parteien im Kampf um den Einfluss auf den willensschwachen Alexej den Stillen lagen: die Verwandten und Anhänger der alten Zarin, die aus dem Geschlecht der Fürsten Miloslawski stammte, und die Anhänger der neuen Herrscherin Natalja Naryschkina.
    Im Moment hatten die Naryschkins, die Kanzler Matfejew anführte, die Oberhand. Artamon Sergejewitschs Glück war stark und ruhte auf drei Säulen. Die erste und festeste bestand darin, dass die Zarin Natalja, die in Matfejews Haus erzogen worden war, den Bojaren überaus verehrte und Vater nannte. Die zweite Säule

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