Die Bibliothek des Zaren
bei einem der zahlreichen Kremlbrände den Flammen zum Opfer fiel. Aber es gibt auch Enthusiasten, die glauben, dass die Liberey noch heute irgendwo in einem vergessenen Keller – sei es des Kremls oder des Landsitzes Alexandrowa Sloboda oder eines der von Iwan geschätzten Klöster – aufbewahrt wird. Im Verlauf der letzten hundert Jahre hat man mehrfach Ausgrabungen im Kreml vorgenommen, sogar unter Stalin, aber natürlich wurde nichts gefunden. Und Cornelius von Dorn hat mit Sicherheit nichts mit Iwan dem Schrecklichen zu tun, schließlich lebte er ein ganzes Jahrhundert später. Nein, es muss in diesem Brief um eine andere ›Liberey Iwans‹ gehen. Deine Schatzsucher haben keine Ahnung und sind Dilettanten, sie sind einem Irrtum aufgesessen.«
»Danke für den Vortrag«, antwortete Altyn. »Es sieht so aus, als ob das Trara um die Bibliothek wirklich Quatsch mit Soße ist. Aber was die Dilettanten betrifft, die keine Ahnung haben, die würde ich an deiner Stelle nicht unterschätzen. Wenn du hier mal nicht selbst einem Irrtum aufsitzt! Wir beide wissen ja schließlich nicht, wie weit sie sich auf diese Liberey eingeschossen haben, es sieht so aus, als ob sie völlig jeck danach sind. Einer von ihnen ist offensichtlich der Große Sosso. Aber es gibt noch jemand anderes, mit dem Sosso sich kloppt und für den der tote Hippie gearbeitet hat. . .«
Sie füllte den Teekessel mit ungefiltertem Wasser direkt aus dem Hahn (Nicholas zuckte zusammen, schwieg aber), setzte ihn auf und lief ins Zimmer.
»Komm nicht rein, ich ziehe mich um!«, schrie sie durch die offene Tür. »Wir trinken jetzt Tee, zu essen haben wir eh nichts, und ich pese in die Redaktion. Ich versuche rauszukriegen, was dein Hippie für ein Früchtchen ist. Genauer: was für ein Trockenfrüchtchen, denn nach dem Treffen mit den Kaukasiern des Großen Sosso weilt er wohl kaum noch unter den Lebenden. Du, Historiker, bleib hier still sitzen und streng dein Hirn an. Vielleicht kriegst du noch was aus dem Brief raus. Im Eisschrank ist totale Ebbe, da ist nichts zu machen. Stell dir vor, du bist in einem Land der Dritten Welt, wo der Hunger wütet. Auf dem Rückweg gehe ich in den Laden und kaufe etwas ein. Lass es dir bloß nicht einfallen, auf die Straße zu gehen. Und auch nicht ans Fenster.«
***
Eine Minute, nachdem die ungestüme Liliputanerin, ohne sich zu setzen, in zwei Schlucken ihren Kaffee heruntergekippt hatte, war Nicholas in der Wohnung allein. Er trank ebenfalls Kaffee (ohne Sahne und Zucker), kaute zerstreut auf einem harten Brotkanten herum, den die Gastgeberin ihm großzügigerweise überlassen hatte, und strengte, wie befohlen, sein Hirn an. Der Nebel über den Ereignissen lichtete sich ein wenig, die Umrisse begannen sich abzuzeichnen.
Irgendjemand – nennen wir ihn Herrn X – hatte von dem Dokument in dem Versteck von Infernograd erfahren. Die Erwähnung von »Iwans Liberey« hatte ihn auf den Gedanken gebracht, es handele sich um die sagenumwobene Bibliothek Iwans des Schrecklichen, und die Briefhälfte enthalte den Schlüssel zu diesem unermesslichen Schatz. Genauer: einen ersten Fingerzeig, denn die linke Hälfte des Briefes fehlte ja. Die Infernograder Briefhälfte wies auch keine Unterschrift auf, so dass auch Herr X keinen weiteren Anhaltspunkt hatte.
Es vergingen drei Jahre, und Herr X erfuhr irgendwie von der Publikation eines britischen Historikers, die ihm sofort den Fund von Infernograd in Erinnerung rief. Herr X verglich die Angaben, fügte den in dem englischen Artikel zitierten Anfang mit den ihm bekannten ersten Zeilen des Briefes zusammen und war sich sicher, dass der verloren gegangene Teil des Schriftstücks gefunden war. Die weiteren Absichten von Herrn X lagen auf der Hand: Er wollte den Engländer nach Moskau locken und in den Besitz der fehlenden Hälfte kommen.
Wer ist nun dieser Herr X?
Sicher kein Historiker, so viel ist klar. Ein Wissenschaftler würde nicht stehlen und Mörder auf einen ansetzen. Außerdem würde er wissen, dass schon längst belegt worden ist: Die Bibliothek Iwans des Schrecklichen ist nichts als eine Erfindung. Ganz davon zu schweigen, dass von Dorns Botschaft ein Jahrhundert später verfasst wurde.
Er ist ein Bandit, ein Mann aus der Russenmafia. Und das ist vorläufig alles, was man von ihm sagen kann. Es hat keinen Sinn, sich in diese Frage weiter zu vertiefen, sonst kommt es zu Fehlschlüssen, es gab viel zu wenig Informationen. Wer genau hinter der Geschichte mit dem
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