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Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
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Aktenkoffer zurückgebracht. Gestern, auf der Uferstraße, hatte er seelenruhig dagestanden und ihm hinterhergewinkt. Er hatte sich das Kennzeichen des Autos gemerkt und deshalb auch leicht die Adresse gefunden. Brrr, er war nachts hier gewesen und hatte sie beide schlafen gesehen. Und ihn aus irgendeinem Grund nicht getötet. Ob er es sich anders überlegt hatte? Oder einen anders lautenden Befehl erhalten hatte? Bestimmt.
    Was für ein Spiel dieser fröhliche Killer spielt, ist unklar, aber man darf die kleine Journalistin nicht in Gefahr bringen. Wegen Nicholas hing ihr Leben auch so schon an einem seidenen Faden. Einen Unhold, der es liebt, seinen Opfern ins Auge zu sehen, kostet es nichts, ein schwarzäugiges Mädchen von anderthalb Metern plus einen Zentimeter zu töten, da kommt seine Hand nicht ins Zittern.
    Er musste unbedingt von hier weg. Nur wie? Die Wohnung wurde bestimmt beobachtet. Was tun? Was tun? Was tun?
    Als er den Aktenkoffer schon gepackt hatte, tigerte er noch zehn Minuten in der Wohnung auf und ab, dann nahm er sich zusammen: setzte sich, schlug die Beine übereinander und schlang die Finger um die Knie. Er zwang sich zur Ruhe.
    So.
    Er musste die Gefahr von Altyn abwenden. Das war die Hauptsache. Alles andere konnte warten.
    Er hätte ihr sagen müssen, dass Schurik lebte und sich irgendwo in der Nähe aufhielt. Jetzt war es zu spät, er hatte noch nicht einmal ihre Handynummer.
    Ob er ihr eine Nachricht hinterlassen sollte?
    Aber das Wahrscheinlichste war, dass, sobald er die Wohnung verließ, sie hierher kämen. Bestimmt. Umbringen wollten sie ihn vorläufig nicht, das war klar. Sie würden ihn also verfolgen, überwachen oder, wie Altyn sich ausdrückte, ihn unter ihre Fittiche nehmen. Sie brauchten ihn aus irgendeinem Grund, warum hätten sie ihm sonst den Aktenkoffer zurückgeben sollen?
    Und wenn diese Herrschaften ihn beobachten wollten, dann würden sie mit Sicherheit hier Abhörgeräte anbringen. Sie wissen ja nicht, dass der Engländer nie mehr hierher zurückkehrt.
    Also musste er dafür sorgen, dass sie es erfuhren.
    Fandorin nahm ein Blatt Papier und kritzelte schwungvoll mit dem Filzstift:
    Liebes Küken, ich habe ausgeschlafen und gehe.
    Danke, dass du mich aufgenommen hast. Du kannst dir nicht vorstelleny wie sehr du gestern gerade zur rechten Zeit mit deinem Auto angehalten hast. Dafür danke ich dir besonders und lege zu den hundertfünfzig noch fünfzig dazu. Und danke, dass du keine überflüssigen Fragen gestellt hast. Dafür noch mal fünfzig.
    Küsse
    Kolja
    »Kolja«, das war gut. Das würde sie verstehen. Sollte er nicht noch etwas dazuschreiben, um sie vor der Gefahr zu warnen?
    Nein, schließlich war Schurik kein Idiot. Allein Nicholas’ plötzliches Verschwinden und der kränkende Inhalt des Briefes mussten ihr zeigen, dass etwas nicht stimmte. Fandorin dachte nach, blätterte in seinem Notizbuch und verstärkte den Effekt noch durch den Zusatz:
    Die Nummer war klasse.
    So. Jetzt würde sie dahinter kommen. Hoffen wir das Beste.
    Er legte auf den Zettel zwei Fünfzig-Dollar-Scheine. Für alle Fälle merkte er sich die Telefonnummer, die auf dem Apparat stand. Er würde natürlich nicht hier anrufen können. Allenfalls, um einfach ihre Stimme zu hören. Sich davon zu überzeugen, dass sie lebte.
    Mehr konnte er im Moment nicht tun. Er musste die Beine in die Hand nehmen, wie Altyn sagen würde, und ab zum Flugzeug. Wenn es nach London keine freien Plätze gäbe, müsste er eben woanders hinfliegen, Hauptsache, weit weg von hier.
    Leb wohl, du kleine kühne Frau, die davon träumt, fünf Zentimeter größer zu sein und geliebt zu werden. Mögen deine Träume in Erfüllung gehen.
    ***
    Bevor er aus dem Haus ging, holte Fandorin tief Luft und bekreuzigte sich wieder, das wurde schon zu einer schlechten Angewohnheit.
    Er ging betont gelassen an den älteren Frauen vorbei, die auf einer Bank saßen und ihn ohne Scheu anglotzten. Er hörte, wie eine laut flüsterte:
    »Das ist der von Altyn. Er hat bei ihr geschlafen.«
    Die andere sagte:
    »Huch, was für ein langer Lulatsch.«
    Er durfte sich nicht umsehen. Er mimte den dummen Engländer, der nichts ahnte und sich sicher war, dass ihm der Aktenkoffer durch Gottes Vorsehung zurückgegeben worden war.
    Rechts war der Torbogen zur Straße. Er steuerte darauf zu. Hörte keine Schritte hinter sich.
    Auf der staubigen, sonnenüberfluteten Straße wagte es Fandorin, sich umzusehen. Keine Menschenseele. Zur Sicherheit ging er

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