Die Bibliothek des Zaren
Brief von Cornelius stand, das ließ man vorläufig lieber offen. Es war besser, sich mit dem Schriftstück selber zu beschäftigen.
Da stellten sich Fragen über Fragen.
Warum hatte Cornelius den Brief geschrieben? Warum hatte er ihn in zwei Hälften geschnitten? Warum war die eine Hälfte zusammen mit dem goldenen Medaillon und dem Wecker (Dingen, die dem Hauptmann offenbar besonders am Herzen lagen) in Infernograd geblieben, während die andere Hälfte sich in dem Kästchen mit den Erinnerungsstücken der Familie Fandorin befand? Wo war der Hauptmann nach dem Mai 1682 abgeblieben? Warum hatte er den Schatz nicht selbst gehoben? Und worin bestand dieser Schatz eigentlich? Klar, es war nicht die Bibliothek Iwans des Schrecklichen, aber eine »Liberey« war es doch, also irgendwelche Bücher.
Nicholas spürte, ihm fehlte nur ein ganz kleines Stück, dann würde er dem fernen Vorfahren die Hand reichen können. Wenn Cornelius doch nur einen klitzekleinen Wink gäbe! Aber der Hauptmann schwieg. Er war in der Nähe, Nicholas sah in der Finsternis die unklaren Umrisse seiner reglosen Silhouette, sah ihn in lederner Reitjacke, rundem Helm und mit dem Degen an der Seite. Der Hauptmann wäre seinem Nachkommen liebend gern einen Schritt entgegengekommen, aber Tote können das nicht. Nicholas musste die Entfernung selbst überwinden. Nur, wie sollte er das anstellen?
Er las das Schriftstück ein paarmal hintereinander. Was war mit den toten Knochen gemeint, vor denen Nikita sich fürchten könnte? Und warum sollte er nicht sie, sondern diesen Samoley fürchten, der mit Bast zugedeckt ist? Was ist nur dieser »Samoley«?
Der Magister wusste instinktiv, dass Cornelius‘ Geheimnis zu jenen Geheimnissen gehört, die die Zeit besonders eifersüchtig hütet und nicht ohne weiteres preisgibt.
Es wäre natürlich interessant, Fondorns Versteck zu suchen. Das Haus mit den dreizehn Fenstern war ganz sicher nicht erhalten, und auch der Ort, wo es gestanden hatte, würde sich kaum finden lassen, so dass der Schatz für immer verloren war. Aber wenn man sich auf die Suche begäbe, könnte man vielleicht doch ein wenig Klarheit in das Bild bringen. Vielleicht könnte man Aufschluss darüber bekommen, welche Büchersammlung zu Cornelius‘ Zeiten »Iwans Liberey« hatte heißen können. Im Moskowien des 17. Jahrhunderts gab es nicht so viele Büchersammlungen, als dass sie nicht irgendeine Spur hinterlassen hätten. Vielleicht ging es um die Bibliothek von Matfejew selber, der bekanntlich ein Büchernarr war. Nachdem der allmächtige Minister in Ungnade gefallen war, sollen die Bücher aus dieser Bibliothek gestohlen worden sein. Vielleicht hatte der Bojar sie doch rechtzeitig verstecken können, und sein ausländischer Gefolgsmann Cornelius wusste das? Das wäre wirklich eine Sensation!
Aber es ging hier nicht um Sensationen. Hauptsache, er käme hier lebend raus!
Fandorin zwang sich, zur unbarmherzigen Realität zurückzukehren. Vielleicht hatten die russischen Mafiosi den vollständigen Text des Briefes gelesen, begriffen, dass der Schatz nach dieser Anleitung nicht zu finden ist und beschlossen, den englischen Historiker ziehen zu lassen.
Das war möglich, aber nicht sicher. Er musste warten, ob Altyn Mamajewa, dieser Hansdampf in allen Gassen, nicht etwas klären konnte. In jedem Fall würde er sich so schnell wie möglich in ein Flugzeug setzen und nach London fliegen. Sollte ihm diese historische Heimat mit ihren kriminellen Machenschaften und den unlösbaren Rätseln doch gestohlen bleiben!
Nicholas zweifelte nicht an der Richtigkeit dieser Entscheidung und beschloss, seinem überanstrengten Kopf ein wenig Ruhe zu gönnen. Womit sollte er die Zeit totschlagen?
Für den Anfang wäre es nicht verkehrt, seine Kleidung halbwegs in Ordnung zu bringen.
Er reinigte Hose und Blazer von den Flecken, wusch den Kragen und die Manschetten seines Hemds und trocknete sie über dem Gasherd, nähte den abgerissenen Ärmel an und flickte das Loch am Knie. Das war zwar keine Haute Couture, aber so würde ihn die Miliz auf der Straße wenigstens nicht für einen Penner halten.
Fertig. Und was sollte er nun tun?
Fandorin betrachtete das in der Wohnung herrschende Chaos und hatte eine glänzende Idee: Er sollte der Wohnungsinhaberin für ihre Gastfreundschaft danken. Der Magister zog sich bis auf die Unterhose aus, bewaffnete sich mit einem Lappen und machte sich pfeifend daran, Altyn Mamajewas Räuberhöhle aufzuräumen. Er schrubbte die
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