Die Bibliothek des Zaren
den Inhalt versteht. Er wird seinem kleinen Sohn die Geschichte vom Geschlecht der von Dorns erzählt haben: von dem Stammsitz und von den Ahnen; Nikita muss also den Sinn der Andeutungen verstanden haben. Merkwürdig, dass Issaaki Fandorin, der russische Chronist unseres Geschlechtes, diese Überlieferungen nicht erwähnt; ich habe von ihnen erst erfahren, als ich die Geschichte der schwäbischen von Dorns studiert habe. Offenbar war Nikita noch zu klein, als Cornelius starb, hatte die Erzählungen seines Vaters nicht behalten und konnte sie nicht der Nachwelt überliefern.«
»Meiner Meinung nach ist alles klar«, erklärte die Journalistin. »Der Brief deines Ahnen Kornej beschreibt den Weg zu einem vergrabenen Schatz. Und der Knackpunkt ist folgender: Jemand von unseren hartgesottenen Zeitgenossen glaubt im Ernst, dass man diesen Schatz noch heute heben kann, dreihundert Jahre später. Deshalb hat man dich auch nach Russland gelockt. Deshalb hat man dir die fehlende Briefhälfte abgenommen. Und umlegen wollten sie dich ebenfalls deshalb.«
»Kann sein«, sagte Nicholas und ließ sich nicht auf einen Streit ein, denn die wissenschaftliche Entdeckung hatte ihn in eine nüchtern abwägende akademische Stimmung gebracht. »Aber warum hat man mir dann das Geraubte zurückgegeben?«
»Weiß der Geier«, antwortete Altyn und kratzte sich die Nasenspitze, »da ist irgendetwas bei denen schief gegangen . . . Oder, was am wahrscheinlichsten ist, es handelt sich nicht um eine Bande, sondern um zwei, die den Schatz suchen. Dabei will die eine dich über die Klinge springen lassen, während die andere dich aus irgendeinem Grunde beschützt. Das Geheimnis zweier Ozeane. Und das größte Rätsel besteht darin, was das eigentlich für ein Schatz ist.«
Fandorin lächelte gönnerhaft und sagte:
»Das ist doch nun klar wie Kloßbrühe.«
Das selbstbewusste Mädchen schaute ihn mit solch einem Respekt an (erstmalig!), dass der Magister unwillkürlich Haltung annahm. Er goss sich aus dem Teekessel Wasser ein, nahm einen Schluck, obwohl er gar keinen Durst hatte, nur weil er den schönen Augenblick in die Länge ziehen wollte.
»Der Unbekannte oder die Unbekannten, die diese Geschichte eingefädelt haben, sind der Meinung, dass es in Cornelius‘ Brief um die legendäre Liberey geht, das heißt die Bibliothek Iwans des Schrecklichen. Hast du davon gehört?«
»Von der Bibliothek Iwans des Schrecklichen? Ja, vor ein paar Jahren gab es in der Zeitung einen Mordswirbel: Man stünde kurz vor dem Fund dieser Bibliothek, und dann flössen in Russland Ströme von Milch und Honig, weil es in dieser Bibliothek Raritäten im Wert von einer Milliarde Bucks gäbe. Irgendwelche alten Bücher und Handschriften, die der übergeschnappte Blutsauger Iwan aus irgendeinem Grunde verbuddelt habe. Hat es diese Bibliothek wirklich gegeben?«
Fandorin setzte eine skeptische Miene auf und legte sich im Ton eines gestandenen Dozenten ins Zeug:
»Ich habe mich nie eigens mit diesem Thema befasst, erinnere mich aber an die wichtigsten Fakten. Nachdem die Türken im Jahre 1453 Konstantinopel eingenommen hatten, fiel die von den römischen Kaisern ererbte und in tausend Jahren beträchtlich angewachsene unschätzbare Bibliothek der byzantinischen Herrscher an den Bruder des letzten Kaisers, den Despoten Thomas von Morea. Dieser brachte die Bibliothek nach Italien, von wo die Liberey als Teil der Mitgift seiner Tochter Sophia, die Iwan den Dritten heiratete, nach Moskau kam. Übrigens ist ›Liberey‹ kein Eigenname, sondern bedeutet einfach ›Bücherei‹. Was mit diesen Schätzen weiter geschah, weiß man nicht genau. Die Moskauer Herrscher jener Zeit waren nicht besonders erpicht darauf, Bücher zu lesen. Man nimmt an, dass die Kisten mit den unsortierten Büchern in einem der Keller des Kremls verstaut wurden und da jahrelang herumlagen. Unter dem Großfürsten Wassili Iwanowitsch ließ man den Schriftgelehrten Maxim Grek vom Berg Athos kommen, damit er irgendwelche alten Bücher für den Herrscher durchsah und übersetzte, wahrscheinlich waren es ebendiese Bücher. Dann, bereits unter Iwan dem Schrecklichen, soll einer der gefangenen Livländer die Bibliothek gesehen und sogar beschrieben haben. Das ist wohl die letzte mehr oder weniger glaubwürdige Erwähnung der Bibliothek des Zaren. Danach verschwand sie spurlos. Die meisten Gelehrten nehmen an, dass die Bibliothek entweder durch Schenkungen aufgelöst wurde oder, was wahrscheinlicher ist,
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