Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek des Zaren

Die Bibliothek des Zaren

Titel: Die Bibliothek des Zaren Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris Akunin
Vom Netzwerk:
noch fünf Minuten auf dem Bürgersteig weiter, ohne etwas Verdächtiges zu bemerken.
    Vielleicht sah er alles viel zu dramatisch? Was, wenn Herr X nach der Lektüre des Briefes von Cornelius wirklich das Interesse an der Suche nach der Liberey verloren hatte?
    Umso besser!
    Dann also ein Auto anhalten. Im Reiseführer steht, es gäbe in Moskau wenig Taxis, aber Privatleute nähmen einen gerne mit. Für nur wenig Geld, etwa fünf Dollar, bringe einen ein Privatauto vom Stadtrand bis zum Zentrum. Und dort konnte er dann ein reguläres Taxi nach Scheremetjewo nehmen.
    Er schaute sich um (es gab nach wie vor keine Anzeichen für eine Verfolgung) und wartete auf eine Mitfahrgelegenheit. Aber es kamen nur Lastwagen vorbei. Klar, es war Nachmittag, und der Berufsverkehr fing bald an.
    Schließlich kam ein knallrotes Sportauto um die Ecke geschossen. Nicholas wollte die Hand ausstrecken, ließ sie aber gleich wieder sinken. Warum sollte der Besitzer solch eines schicken Schlittens fünf Dollar verdienen wollen?
    Aber der »Jaguar« hielt lautlos am Bürgersteig an. Mit einem feinen Summen glitt die getönte Scheibe nach unten.
    Am Steuer saß ein Normanne mit goldenen Haaren bis zur Schulter und einem kurzen Bärtchen. Die kornblumenblauen Augen schauten den Magister mit fröhlichem Erstaunen an.
    »Nicht zu fassen. Ein echter Brite. Nur Melone und Regenschirm fehlen. Und das in Beskudniki. What are you doing here, dear Sir?«
    »Ich wollte eigentlich nach Scheremetjewo«, murmelte Fandorin auf Russisch, beunruhigt darüber, dass er sofort als Brite erkannt worden war.
    »Nein, doch kein Brite, aber ein perfektes britisches Styling«, konstatierte der schöne Nordländer. »Ich schätze Perfektion. Steigen Sie ein, Sir, ich nehme Sie mit bis zum Hammer-Zentrum. Von dort bringt Sie jeder Fahrer für fünfzigtausend Rubel nach Scheremetjewo.«
    Das Auto rührte sich wie auf Samtpfoten von der Stelle und drückte Nicholas sanft gegen die weiche Rückenlehne.
    Der Normanne drehte sich neugierig zu ihm um und wollte etwas sagen, aber da erklang der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn (Nicholas hatte in der Zeitung gelesen, dass die Russen ganz verrückt danach sind, ihre Handys nicht klingeln, sondern Melodien spielen zu lassen), und der Beginn des Gesprächs war verschoben.
    »Ja«, sagte der Blonde.
    Und dann nach einer Pause barsch:
    »Das ist doch egal, was Tschernomor gesagt hat. Leonid Robertowitsch, Sie haben die Lizenz versprochen, oder? Na also. Sie haben die Kohle angenommen, oder? Na also. Dann stehen Sie jetzt auch für das Chaos gerade, oder gewählter ausgedrückt: Erfüllen Sie Ihre Verpflichtungen . . . Das hört sich ja schon ganz anders an . . . Das heißt, morgen ist eine Sitzung des Ministeriums? Gut, ich warte. Und vergessen Sie nicht, das ist Ihr Bier und nicht meins. Au revoir.«
    Nicholas wusste, dass man unter Beamten und Geschäftsleuten den Premierminister Tschernomyrdin kurz Tschernomor nannte, und blickte den Autobesitzer mit besonderem Interesse an. Wer war er denn, wenn er selbst vor dem Staatsoberhaupt keine Manschetten hatte? Ein Großindustrieller oder der Vertreter einer Lobby?
    »Warum reden Sie nicht, Sir?«, fragte der geschäftige Mann, als er sein Telefonat beendet hatte. »Dafür, dass ich Sie mitnehme, erwarte ich von Ihnen eine flotte Story. Erzählen Sie etwas von sich. Was machen Sie?«
    Wieder erklang der Hochzeitsmarsch.
    »Ja«, sagte der neurussische Macho wieder. ». . . Wie bitte, Tolja, du bist wohl von der Riesenerdbeere gefallen, die auf Mitschurins Mist gewachsen ist? Okay, sofort. Da hast du einen Geduldsengel gefunden . . . Was denn für Jungs aus Reutow, verdammt? Was erzählst du mir da für einen Blödsinn? Es ist kein Problem, die Chose zu bereinigen, nur beschwer dich dann hinterher nicht . . . Okay, Tolja, abgemacht.«
    Dieses Gespräch klang ganz anders als das vorherige. Diesmal hatte Nicholas kein Wort verstanden. Nur »bereinigen«, da wusste er, dass das in der Sprache der Kriminellen »einen Konflikt lösen« hieß. War dieser Mann also weder ein Politiker noch ein Geschäftsmann, sondern ein Krimineller?
    Diesmal warf der Normanne den Hörer recht wütend hin und zischte: »Dieser miese Bock.« Doch dann fiel ihm sofort wieder sein Fahrgast ein, er lächelte ihm mit seinen weißen Zähnen zu und sagte:
    »Pardon. Sie geben uns keine Chance, uns kennen zu lernen. Haben Sie den Blazer bei ›Harrods‹ gekauft? Der Ärmel ist eingerissen, haben Sie das

Weitere Kostenlose Bücher