Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
sie nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie war furchtbar dünn geworden und hatte entsetzlich dunkle Ringe unter den Augen.«
Mir drehte sich langsam der Magen um. Ich wusste, jetzt kamen wir zu dem Teil der Geschichte, vor dem ich am allermeisten Angst hatte. Mein Atem ging schneller. »Ich war doch bei ihr, als du sie am Bus abgeholt hast? Sie hatte mich doch mitgenommen, oder?«
Augusta lehnte sich zu mir und flüsterte in mein Haar: »Nein, mein Herz, sie kam ganz alleine.«
Ich merkte, dass ich mir in die Backe gebissen hatte. Der Geschmack von Blut war widerlich, ich schluckte es herunter. »Warum?«, sagte ich. »Warum hat sie mich nicht mitgenommen?«
»Alles, was ich weiß, Lily, ist, sie war todtraurig, sie drohte zusammenzubrechen. An dem Tag, als sie von zu Hause weggegangen ist, ist wohl noch nicht einmal etwas Besonderes passiert. Sie war nur einfach wach geworden und hatte beschlossen, dass sie dort nicht mehr leben konnte. Sie hat dann wohl eine Frau von einer anderen Farm angerufen, um auf dich aufzupassen, und ist dann in Terrence Rays Laster zur Bushaltestelle gefahren. Bis zu dem Moment, als sie hier ankam, hatte ich natürlich gedacht, sie würde dich mitbringen.«
Die Schaukel knarzte, und wir saßen da und rochen den warmen Regen, das nasse Gras, vermodertes Gras. Meine Mutter hatte mich verlassen.
»Ich hasse sie«, sagte ich. Ich wollte es herausschreien, aber es klang eigenartig gefasst, leise rasselnd, wie wenn ein Auto im Schritttempo über Schotter knirscht.
»Na, langsam, Lily.«
»Doch, ich hasse sie. Sie war überhaupt nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe.«
Ich hatte mir mein ganzes Leben lang ausgemalt, wie sehr sie mich geliebt hatte, sie war für mich das perfekte Bild einer Mutter gewesen. Doch das waren alles Lügen. Ich hatte mir eine Mutter erfunden.
»Es war bestimmt einfach für sie, mich bei meinem Vater zu lassen, sie hat mich ja sowieso nie gewollt«, sagte ich.
Augusta streckte die Hand nach mir aus, aber ich war schon aufgesprungen und stieß die Tür auf, die zu den Stufen führte. Ich ließ sie hinter mir zuknallen, dann saß ich auf den regennassen Stufen, zusammengekrümmt unter dem Dachvorsprung.
Ich hörte, wie Augusta über die Veranda kam, und fühlte, wie sie auf der anderen Seite des Fliegengitters hinter mir stand. »Ich werde mir ganz sicher keine Entschuldigung für deine Mutter ausdenken, Lily«, sagte sie. »Deine Mutter hat getan, was sie getan hat.«
»Irgend so’ne Mutter«, sagte ich. Ich war voller Wut.
»Wirst du mir mal eine Minute lang zuhören? Als deine Mutter hier in Tiburon ankam, bestand sie nur noch aus Haut und Knochen. May konnte sie nicht dazu bringen, auch nur einen einzigen Bissen zu essen. In der ersten Woche, als sie hier war, hat sie nur geweint. Heute nennen wir das einen Nervenzusammenbruch, aber damals wussten wir nicht, was mit ihr los war und wie wir es nennen sollten. Ich brachte sie zum Arzt, und er gab ihr Lebertran und fragte, wo denn ihre weiße Familie leben würde. Er meinte, vielleicht täte es ihr gut, eine Zeit lang in einer Anstalt zu bleiben. Und dann bin ich natürlich nie mehr mit ihr zu diesem Arzt gegangen.«
»Du meinst, eine Irrenanstalt?« Es wurde von Minute zu Minute schlimmer. »Aber so was ist doch nur für Verrückte!«, sagte ich.
»Ich glaube, er wusste einfach nicht, was er mit ihr machen sollte. Aber sie war ja nicht verrückt. Sie war wohl depressiv, aber nicht verrückt.«
»Hättest du ihn doch gelassen, hätte er sie doch dahin gebracht! Ich wünschte, sie wäre da verrottet.«
»Lily!«
Ich hatte sie schockiert und war froh darüber.
Meine Mutter hatte Liebe gesucht, und stattdessen hatte sie T. Ray und die Farm bekommen, und mich, aber ich hatte ihr nicht gereicht. Mich hatte sie bei T. Ray Owens gelassen.
Der Himmel wurde von einem gezackten Blitz geteilt, aber selbst jetzt rührte ich mich nicht. Mein Haar wehte wie Rauch in alle Richtungen. Meine Augen wurden hart und schmal wie Geldschlitze. Ich starrte auf einen Haufen Vogelscheiße auf der untersten Stufe und sah zu, wie der Regen sie in den Ritzen des Holzes verteilte.
»Hörst du mir jetzt mal zu?«, sagte Augusta. Ihre Stimme drang durch das Gitter, jedes Wort voll kleiner Stacheldrahtspitzen. »Hörst du?«
»Ich höre.«
»Jemand, der depressiv ist, tut Dinge, die andere Menschen niemals im Leben tun würden.«
»Wie was?«, sagte ich. »Sein Kind verlassen?« Ich konnte nicht aufhören. Der Regen
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