Die Bienenhüterin - The Secret Life of Bees
jeder eine Last mit sich herumträgt, die einen fast erdrückt - nur lassen andere Leute deshalb nicht ihre Kinder im Stich.
Auf eine eigenartige Weise muss ich wohl mein kleines Sortiment an Wunden und Schmerzen geliebt haben. Immerhin wurde ich um ihretwillen bemitleidet, und sie gaben mir das Gefühl, außergewöhnlich zu sein. Ich war das Mädchen, das von seiner Mutter verlassen worden war. Ich war das Mädchen, das auf Grießflocken knien musste. Ich war schon ein ganz besonderer Fall.
Wir waren mitten in der Moskitosaison, und so verbrachte ich einen großen Teil von meiner Zeit am Fluss damit, nach ihnen zu schlagen. Ich saß in den violetten Schatten, zog die Mäuseknochen aus meiner Hosentasche und spielte mit ihnen herum. Ich starrte Dinge an, bis ich geradezu in sie hineinzuschmelzen schien. Manchmal vergaß ich darüber sogar das Mittagessen, und dann kam Rosaleen mit einem Tomatensandwich zu mir. Wenn sie weg war, warf ich es in den Fluss.
Manchmal legte ich mich flach auf den Boden und stellte mir vor, ich wäre in einem dieser Bienenkorbgräber. Ich fühlte mich wie damals, gleich nachdem May gestorben war, nur noch hundert Mal schlimmer.
Augusta hatte gesagt: »Du musst wohl ein wenig trauern. Also tu das ruhig.« Aber jetzt, wo ich mich darauf eingelassen hatte, konnte ich damit gar nicht mehr aufhören.
Ich bin mir sicher, dass Augusta Zach und June alles erzählt haben musste, denn sie schlichen um mich herum, als wäre ich ein Fall für die Psychiatrie. Vielleicht war ich das ja. Vielleicht war ja ich diejenige, die in eine Anstalt gehörte, nicht meine Mutter. Zumindest aber drängte mich niemand oder stellte Fragen oder sagte: »Liebe Güte, jetzt ist aber mal gut.«
Ich fragte mich, wie lange es noch dauern würde, bis Augusta wegen all der Sachen, die ich ihr erzählt hatte, etwas unternehmen musste - dass ich von zu Hause weggelaufen war, dass ich Rosaleen bei der Flucht geholfen hatte. Meiner Rosaleen, die nun von der Polizei gesucht wurde. Noch gab Augusta mir Zeit, Zeit, am Fluss zu sitzen und zu tun, was immer ich tun musste, so wie sie sich selbst Zeit gegeben hatte, als May gestorben war. Aber diese Zeit würde ja nicht ewig dauern.
Es liegt wohl im Wesen der Welt, dass sie sich weiter dreht, egal, wie viel Leid die Menschen ertragen mussten. June setzte einen Termin für die Hochzeit fest, Samstag, den 10. Oktober. Neils Bruder, ein Pfarrer der Afrikanisch-Methodistischen Kirche aus Albany, Georgia, sollte sie im Garten unter den Myrtenbäumen verheiraten. June erläuterte uns ihre Pläne eines Abends beim Essen. Sie wollte auf Rosenblättern den Gang hinunter schreiten, und sie wollte dabei einen weißen Anzug aus Rayon mit Paspelverschlüssen tragen, den Mabelee für sie nähen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Paspelverschlüsse waren. June zeichnete es für mich auf, aber danach hatte ich es immer noch nicht verstanden. Lunelle war beauftragt worden, ihr einen Hut für die Hochzeit zu machen, was ich ausgesprochen mutig von June fand. Man konnte schließlich in keiner Weise voraussehen, mit was für einem Gebilde auf dem Kopf sie würde dann heiraten müssen.
Rosaleen war gebeten worden, den Hochzeitskuchen zu backen, und Violet und Queenie wollten Haus und Garten mit einem »musikalischen Thema« dekorieren. Ich kann es nur noch einmal sagen - June war sehr mutig.
Eines Nachmittags, ich starb fast vor Durst, kam ich in die Küche, um mir eine Kanne mit Wasser zu füllen und mit zum Fluss zu nehmen, und sah June und Augusta, aneinander geklammert, auf dem Fußboden.
Ich stand in der Tür und beobachtete sie, obwohl diese Szene nicht für fremde Augen bestimmt war. June hielt sich an Augustas Rücken fest, ihre Hände zitterten. »May wäre über diese Hochzeit so glücklich gewesen«, sagte sie. »Sie hat mir bestimmt hundert Mal vorgeworfen, wie stur ich wegen Neil war. Oh Gott, Augusta, warum habe ich das nicht schon früher gemacht, als sie noch lebte?«
Augusta drehte sich ein wenig zur Seite und entdeckte mich. Sie umarmte June, die anfing zu weinen, aber ihre Augen waren auf mich gerichtet. Sie sagte: »Quäl dich nicht. Selbstvorwürfe nützen gar nichts, das weißt du doch.«
Am nächsten Tag hatte ich dann tatsächlich Lust, etwas zu essen. Ich ging zum Mittagessen ins Haus und stieß auf Rosaleen, die ein neues Kleid trug und ihr Haar sorgfältig geflochten hatte. Sie steckte sich Taschentücher zur Aufbewahrung in ihren
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